Leben/Gehen

Christian Seilers Gehen: Es fehlte nur der Gesang des Muezzins.

Zuerst flanierte ich über die Döblinger Hauptstraße, betrachtete ein paar skurrile Geschäfte wie die Modellbaustube mit dem schlichten Namen „Modellbaustube“, wo man allerlei Kriegsgerät zum Nachbau im wohnzimmertauglichen Maßstab einkaufen kann, und freute mich über deren Öffnungszeiten.
Sie sperrt wochentags um „ca. 10 Uhr 30“ auf und am Samstag „so um zehn Uhr“. Dafür hält sie „mindestens bis 18 Uhr 04“ (wochentags) oder „kurz nach 13 Uhr“ geöffnet. Nur falls Sie das Schlachtschiff „Viribus Unitis“ im Maßstab 1:350 nachbauen wollen oder irgendetwas anderes aus der breiten Produktpalette von „Revell“, was hier im Schaufenster steht.
Dann bog ich in den Max-Patat-Weg ein, der nach dem früheren Leiter des nahen Döblinger Bezirksmuseums benannt ist, schlängelte mich am Emil-Reich-Hof vorbei und war unter den Kronen hoher Bäume in Gedanken, als ich rechts des Zauns einen merkwürdigen Turm erblickte.
Ich lugte über den Zaun – eines der Privilegien, wenn man über 1,90 Meter groß ist –, sah eine verschachtelte Anlage, die von einem kunstvollen, orientalisch geprägten Turm gekrönt wurde, und wurde neugierig. Bog bei der ersten Möglichkeit nach rechts in die Seleskowitschgasse ab und ging gleich darauf in der Nusswaldgasse zurück, um zu sehen, wo dieser Turm dazugehört.
Zuerst sah ich nur eher unspektakuläre Wohnhausfassaden. Aber dann, vielleicht hundert Meter weiter, stand ich plötzlich vor einem unglaublichen Gebäude. Es sieht aus, als ob es ein weit gereister Mensch in Istanbul oder Isfahan eingekauft hätte, sich einpacken und hierher verfrachten ließ. Nur der aus bunten Fliesen hergestellte Schriftzug „J. Zacherl“ sorgt für Wienerische Bodenhaftung.
Also fand ich heraus, dass besagtes Gebäude an der Nusswaldstraße 14 einst die Produktionsstätte von Mottenpulver gewesen war. Dieses hieß „Zacherl’s Insecten tödtende Tinktur“ und war unter der Abkürzung „Zacherlin“ ein internationaler Renner. Die Firma besaß Niederlassungen in Paris, Konstantinopel, Amsterdam, New York und Philadelphia.
Das orientalisierende Fabrikgebäude ließ Johann Evangelist Zacherl, Sohn des Gründers, zwischen 1888 und 1892 neu errichten. Er beschäftigte den berühmten Architekten Hugo von Wiedenfeld und ließ sich die bunten, fein verzierten Fliesen eigens von der Wienerberger Ziegelfabrik produzieren. Als mit Mottenpulver nach dem Ersten Weltkrieg kein Geld mehr zu verdienen war, sattelte die nächste Generation auf Skibindungen um. Damit war sie vor dem Zweiten Weltkrieg eindeutig zu früh dran.
Die Fabrik wurde 1949 geschlossen, stand lange leer, bis sie als Ort für Kunstausstellungen, Musikabende und Tanzaufführungen wiederentdeckt wurde. Inzwischen dient sie privaten Zwecken – und natürlich dem Entzücken der staunenden Passanten, die sich hierher verirren und so wie ich mit offenem Mund stehen bleiben und das Gefühl haben, sie sind für einen Augenblick im falschen Film gelandet.
Ein schönes Gefühl, es fehlte nur der Gesang des Muezzins. Den stellte ich mir vor, als ich weiter Richtung Grinzing ging.

christian.seiler@kurier.at