Leben/Gehen

Christian Seilers Gehen: Erinnerungen an liebe Menschen

Ich ging am Stadtwirt vorbei, Ecke Marxergasse, und die Tür war offen. Ich warf einen Blick hinein, so wie ich oft einen Blick in die Wirtshäuser werfe, die ich kenne, wahrscheinlich weil ich insgeheim hoffe, dass mich irgendjemand erspäht und davon abhält, weiterzugehen. Ich sah die Budel und links davon den Hochtisch, wo regelmäßig Dr. Werner Schneyder sein Mittagessen einnahm. Genau dort hatte ich ihn ein paar Wochen vor seinem Tod zum letzten Mal gesehen. Die Treffen hier im Stadtwirt, unserem gemeinsamen Lieblingswirten um die Ecke, kamen mir in den Sinn, die meisten zufällig, manchmal (viel zu selten) auch verabredet, und an die Gespräche über Fußball, Theater und Politik, was ja  bekanntlich alles irgendwie   zusammenhängt.
Der Tisch war leer, aber er war auch nicht leer. Vor der Holzvertäfelung materialisierte sich meine Erinnerung, sie warf einen unsichtbaren Schatten an die Wand.
Ich ging weiter zum Rochusmarkt. Dort, vor einem Stand, wo schon bei den ersten Sonnenstrahlen ein paar Stühle vor die Tür gestellt werden, gibt es einen guten Espresso. Hier hatte ich meinen früheren Kollegen Horst Christoph, den Kunst- und Architekturkritiker beim profil, zum letzten Mal getroffen, es ist sicher ein, zwei Jahre her. Auch Horst hat sich  für immer verabschiedet, am letzten Karfreitag, aber ich konnte ihn sehen, wie er da saß und schelmisch lächelte und gar nicht wusste, wo er zu erzählen beginnen sollte, in den Bergen oder in einem Museum oder in seiner Privatbibliothek, jedenfalls irgendwo, wo ich dringend auch hinsollte, weil er dort etwas ganz Besonderes erlebt hatte. Die Tische waren besetzt, Gelächter, weil Aperol Spritz am späten Vormittag, aber ich roch nur Espresso und ich hörte Horst, und ich vermisste ihn.
Ich ging die Rasumofskygasse hinunter Richtung Prater, wo ich mich, wenn das sein muss, mit langen Schritten zwischen Kastanienbäumen trösten kann, und ich dachte an die Toten meines Lebens, den abgestürzten Kletterer David Lama, mit dem ich zwei Bücher geschrieben hatte, an die Todestage meines Vaters und meiner Großmutter, beide Ende Mai gestorben, und an die Zyklen des Vermissens, an die Momente, wo ein Schatten der Erinnerung für einen Augenblick aus der Unsichtbarkeit hervortritt und auf sich aufmerksam macht. Mir fiel das Gedicht des brasilianischen Dichters Manuel Bandeira ein, auf das ich in der hinreißenden Anthologie „Natur!“ gestoßen war, die der große John Burnside herausgegeben hat. Es heißt „Tote Nacht“ und beschreibt eine leere, dunkle Straße: „Niemand kommt die Straße entlang./Nicht einmal ein Betrunkener.//Und doch gibt es dort eine Prozession von Schatten./Den Schatten all derer, die hier vorbeigekommen sind./Derer, die noch leben, und derer, die schon gestorben sind.//Der Pfad weint./Die Stimme der Nacht …/(Nicht dieser Nacht, sondern einer anderen, größeren.)“
Ich ging die Hauptallee entlang, unter den schattenwerfenden Kronen der Kastanienbäume, bis ich zum Lusthaus kam, wo es heller wurde.

christian.seiler@kurier.at

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