Leben/Gehen

Christian Seilers Gehen: Ein Umspannwerk, das Wucht verströmt

Die Gegend um den Wiener Hauptbahnhof ist nicht arm an bemerkenswerter Architektur, es werfen sich Gebäude verschiedenster Epochen in Pose. Ich gehe nach einer Runde durch den Schweizergarten zum Beispiel am 21er-Haus vorbei, das noch immer kühl und elegant aussieht wie am ersten Tag (Architekt: Karl Schwanzer; Baujahr: 1958), schiebe mich durch den Schatten, den die neuen Wohntürme neben den Gleisen werfen (Architekt: Renzo Piano, Baujahr: gerade eben) und denke darüber nach, welches Licht wohl diese Bauten in sechzig Jahren auf das architektonische Selbstverständnis von damals (also von heute) werfen werden. Hm. Keine Ahnung.
Ich durchquere den Erste Campus (Architekten: Henke Schreiek; Fertigstellung: 2015), der belebt ist von vergnügten Menschen, die in den Schanigärten ihre Zwischenmahlzeiten einnehmen, und freue mich an der Eleganz der geschwungenen Gebäude, die für mich zum Schönsten zählen, was in Wien in den letzten Jahren gebaut wurde. Ich nehme die Unterführung beim Ostausgang des Wiener Hauptbahnhofs (Architektur: Hotz/Hoffmann/Wimmer; Fertigstellung: 2015), über den ich lieber nicht sprechen möchte, weil er einem planerischen Gewurstel entstammt und entsprechend aussieht, orientiere mich dann in die Richtung des schmalen, mehr Understatement als Kraftprotzerei ausstrahlenden Hochhauses der ÖBB-Konzernzentrale (Architekten: Zechner/Zechner; Fertigstellung: 2014). Dann biege ich in die Sonnwendgasse ein, und zum ersten Mal auf diesem Spaziergang bleibe ich stehen.
Vor mir faltet sich das Umspannwerk Favoriten auf (Architekten: Eugen Kastner, Fritz Waage; Fertigstellung: 1931), ein Gebäude, das sich des dreieckigen Grundstücks zwischen Sonnwendgasse und Humboldtgasse bemächtigt hat und dabei etwas Außerordentliches leistet. Es verströmt nicht nur, wie bei einem Industriebau angemessen, Funktionalität, sondern mehr, ich würde sagen: Wucht. Anspruch. Selbstbewusstsein. Das Gebäude wirkt wie ein U-Boot, das aus unerfindlichen Gründen mitten in der Stadt aufgetaucht ist, grau, umbrandet von den gesichtslosen Fassaden der gegenüberliegenden Gebäude. Verschiedene, exakt betonte Ausgucke befinden sich weit über der Wasseroberfläche, also dem Trottoir, auf dem ich den Gebäudekomplex umrunde.
Tatsächlich saßen droben auf der Brücke die Stationsleiter, die den Betrieb des Werks überwachten, wo der Strom aus dem Süden Wiens ankommt und auf eine niedrige Spannung gebracht wird. Das Werk ist noch immer in Betrieb, wenn auch mehr oder weniger durchautomatisiert. Die Anklänge an die russische Revolutionsarchitektur wirken deplatziert. Die Kontraste zur überarbeiteten Umgebung sind denkbar krass.
Ich gehe weiter, Humboldtgasse, Humboldtplatz, mache mit dem Handy ein Foto und schicke es an Willi Resetarits, der hier aufgewachsen ist, Grüße von der Zeitmaschine, dann steuere ich den Tichy am Reumannplatz an, weil gleich nebenan in der Rotenhofgasse ein Beisl ist – frage nicht. Fleischlaberln, gebackene Steinpilze, comme il faut: Ja, noch so eine Zeitmaschine.

christian.seiler@kurier.at

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