Leben/Gehen

Christian Seilers Gehen: Ein gruseliges Fotoshooting in bunten Dessous

Eigentlich hatte ich gar keine Veranlassung, den Zentralfriedhof aufzusuchen. Gemütszustand heiter, kein Partezettel im Briefkasten, aber das vage Bedürfnis, Wiens Nekropole einmal in meinem eigenen Tempo, nicht im gemäßigten Schritt eines Trauerzugs zu durchschreiten.
Meine Wanderung begann am Bahnhof Simmering und führte mich entlang der Schienen der Linie 71 bis zum 1. Tor. Ich betrachtete mit Interesse, wie sich die Simmeringer Hauptstraße veränderte, als ich mich dem Friedhof näherte, Grabsteine hier, Kränze da, Leichenschmaus dort – namentlich im legendären Concordia Schlössl,  der einzige und perfekte Ort für Abdankungen aller Art, Quentin Tarantino würde mir sicher zustimmen.
Ich betrat den Friedhof durch das 1. Tor – eine unübliche Wahl, normalerweise nehme ich zwangsläufig das 2., wo das Entrée mächtig und feierlich ist, wo die Kirche zum Heiligen Lazarus steht und das Bestattungsmuseum – und auch das Hot-Dog-Standl, das die Lebenden daran erinnert, dass sie noch nicht tot sind und dringend etwas essen sollten. Aber ich fand mich schnell in diesem peripheren Teil des Friedhofs zurecht. Nahm nicht die diagonale Allee, die mich ins Zentrum der Anlage geführt hätte, wo die Staatsoberhäupter und Honoratioren unserer Republik ihre letzte Ruhe genießen, sondern durchquerte den jüdischen Teil des Friedhofs mit seinen überwachsenen, oft aus der Balance geratenen Grabsteinen. Ich sah offene Gruften und hörte empörten Vögeln zu, die sich nicht von mir stören lassen wollten: schleich dich, hier bin ich zu Hause.
Gerade als ich mich von der zarten Melancholie des Ortes freimachen und dem Beethovengrab einen Besuch abstatten wollte, sah ich zwei Menschen kommen, die sich auffällig benahmen. Der etwas grobschlächtige Mann trug eine Kameratasche, die junge Frau in kurzen Shorts schleppte sogar einen großen Koffer. Etwas befremdet, aber auch fasziniert sah ich den beiden zu, bis ich begriff, was sie vorhatten: Die junge Frau knöpfte sich die Bluse auf und posierte zwischen den Grabsteinen für ein gruseliges Fotoshooting in bunten Dessous, in ihrem Koffer hatte sie noch mehr davon.
Was jetzt? Laut hüsteln und abwarten, was passiert? Oder lautlos abhauen und nicht riskieren, womöglich für einen Spanner gehalten zu werden? Probleme tun sich manchmal gerade dort auf, wo man am wenigsten mit ihnen rechnet.
Ich entschied mich für Möglichkeit zwei und ging quer durch den Friedhof zum Ehrengrab Beethovens und dankte ihm dafür, dass er die Musik geschrieben hat, die mir der Pianist Igor Levit gerade auf so berückende Weise nahe bringt. Beugte das Haupt und hinterließ eine Kastanie vom vergangenen Jahr, die ich seither als Glücksbringer mit mir herumgeschleppt hatte. Stöpselte meine Kopfhörer ein und hörte mir den dritten Satz aus der Klaviersonate Nr. 30 in E-Dur an, Opus 109, „Gesangvoll, mit innigster Empfindung“.
Mich erfasste ein feierliches Gefühl der Heiterkeit. Beethoven lächelte. Am jüdischen Friedhof wurde der Auslöser betätigt.

christian.seiler@kurier.at