Leben/Gehen

Christian Seilers Gehen: Das Verschwinden geliebter Orte

Ich streife durch das Weißgerberviertel, jenen Teil des dritten Bezirks, der direkt am Donaukanal liegt. Der Name hat natürlich seine Geschichte. Die Weißgerber waren Handwerker, die Tierfelle mit Alaun oder Kochsalz besonders hell gerbten. Aus den so bearbeiteten Häuten, vorzugsweise von Kalb, Schaf oder Ziege, nähten Handschuhmacher feinste Ware, Buchbinder schlugen wertvolle Bände darin ein, Taschenmacher schnitten elegante Beutel.

Keine Gerberei ohne Gestank. Die Geruchsbelästigung war auch der Grund, warum das ansonsten geschätzte Handwerk nicht innerhalb der Wiener Stadtgrenzen stattfinden durfte. Das Viertel „Unter den Weißgerbern“ entstand nach der ersten Türkenbelagerung, als das Quartier zwischen der heutigen Löwengasse und dem Donaukanal noch im Rückstaugebiet des Wienflusses lag und regelmäßig überschwemmt wurde.

Ich gehe über den Kolonitzplatz, betrachte die neugotische Pfarrkirche St. Othmar unter den Weißgerbern, die von demselben Friedrich Schmidt geplant worden ist wie das Wiener Rathaus, biege in die Krieglergasse ein und bleibe erschrocken vor einer Baulücke stehen: ein gigantischer Komatsu-Bagger steht auf einem Haufen von Trümmern und Ziegeln. Ein Gründerzeithaus wird abgerissen, in den oberen Stockwerken sind noch deutlich die Konturen der Wohnungen zu sehen, die zur Demolierung freigegeben wurden.

Wie es sich wohl anfühlt, wenn man aus dem Fenster schaut und das Nachbarhaus wird abgerissen? Wie viel Vertrauen braucht man in das Fingerspitzengefühl des Baggerfahrers, wenn der mit Leichtigkeit ein Loch in die eigene Feuermauer reißen könnte?

Abriss trotz 20 Menschen im Haus 

Ich gehe weiter bis zur Dampfschiffstraße, wo ich links abbiege und zur Radetzkystraße gehe. Wenn alles so wäre, wie ich mir das gerade wünsche, würde ich jetzt ins Café Urania gehen und mir eine Melange gönnen. Aber das Café Urania ist geschlossen. Sein langjähriger Inhaber ist gestorben, und das Haus, in dem sich das abgerockte, aber charaktervolle Café befand, ist selbst auf groteske Weise entstellt.

Der Haus- und Grundstücksbesitzer begann, knapp bevor ein neues Abrissverbot in Wiens Zentrum es unmöglich gemacht hätte, das charakteristische Eckhaus abzureißen. Er übersah dabei eine Kleinigkeit: Es wohnten noch über 20 Menschen im Haus. Zuerst wurde das Dach abgetragen, dann das oberste Stockwerk und der markante Eckturm, der dem Haus sein Gesicht gegeben hatte. Erst dann glückte der gerichtliche Baustopp, aber die Zustände im Haus müssen verheerend gewesen sein.

Es kursieren Geschichten von Wassereinbrüchen, einer unversperrbaren Haustür, Gewalt im Stiegenhaus. Ein Gericht zwang den Hausbesitzer im vergangenen Jahr, wieder ein Dach aufzustellen – es dürfte ein Flachdach sein, denn es ist von der Straßenseite her nicht zu sehen. Die Gerüstverkleidung, die die Fassade die längste Zeit bedeckte, ist verschwunden. Das Gerüst steht noch.

Ich gehe Richtung Radetzkyplatz. Wir müssen jeden Ort, den wir lieben, auch beleben. Könnte sein, dass er schneller verschwunden ist, als wir schauen können.

christian.seiler@kurier.at