Christian Seilers Gehen: Das Palais, das vom Himmel gefallen ist
Von Christian Seiler
Ich gehe durch den vierten Bezirk, wie ich immer gehe, wenn ich auf vertrautem Terrain bin: entlang dieser unsichtbaren Leitplanken, die mich am Ende von einer Gegend, die ich ein bisschen weniger gut kenne, wieder dorthin führen, wo ich mich zu Hause fühle. Für den Vierten bedeutet das, dass ich aus dem Grätzel um die Goldeggasse automatisch Richtung Argentinierstraße spaziere, mir anschaue, was demnächst im Akzent Theater auf dem Programm steht, aha, Kabarett, dann weiter Richtung Funkhaus, und dann ist eh schon der sichere Hafen der Wiener Innenstadt in Sicht.
Aber diesmal bin ich weiter gegangen, habe die Leitplanken ignoriert und die innere Landkarte Landkarte sein lassen, bin in die Tiefen des Vierten vorgedrungen und plötzlich, als ich schon das Gefühl hatte, aha, vielleicht war ich eh schon einmal da, aber gemerkt hab ich’s mir nicht, stand ich vor dem Palais Schönburg und mein Unterkiefer – in heiklen Situationen leider nicht sehr loyal zu mir – klappte hinunter und ich dachte mir mit weit offenem Mund – nein, kein schöner Anblick –, dass das schon ein starkes Stück ist: da steht mitten in Wien ein prächtiges, gepflegtes Schlösschen mitten in einem prächtigen, gepflegten Garten, und ich weiß nichts davon.
Das Tor zum Garten stand offen. Ich zögerte, dann wagte ich mich hinein. Eine Dame, die einen Kinderwagen schob, folgte mir mit misstrauischem Blick, aus dem ich schloss, dass sie etwas wusste, was ich nicht wusste, zum Beispiel, dass ich nicht hierher gehörte.
Ich nahm das Palais in Augenschein. Barock, was sonst, später fand ich heraus, dass es nach Entwürfen des Lukas von Hildebrandt gebaut worden war, am Anfang des 18. Jahrhunderts. Ein Auto fuhr vor. Um mich kümmerte sich keiner.
Wäre ich in Amerika hätte schon längst jemand auf mich geschossen, dachte ich mir, andererseits gibt es in Amerika aber keine Barockschlösser, also wagte ich sogar einen Blick ins Entrée. Schon schön, aber irgendwie unpersönlich, dachte ich und war verwirrt: Nicht nur, dass ein mir unbekanntes Palais vom Himmel gefallen war, es besaß auch eine angemessen merkwürdige Ausstrahlung. Erst später recherchierte ich warum: das Haus hat eine wechselvolle Geschichte, ging durch viele Hände, Pleiten, Klagen, ein Hotelprojekt scheiterte am Widerstand der Anwohner, am Schluss musste die öffentliche Hand einspringen, seither kann man das schöne Haus mieten. Ich würde allerdings vorher einen Wünschelrutengänger durchschicken, auf der Suche nach Energien, die ausgeräuchert werden müssen, bevor man hier, sagen wir, eine Hochzeit feiert.
Genau, die Dame mit dem Kinderwagen. Vielleicht wusste sie mehr. Ich sprach sie an. Sie lächelte irritiert. „Nein“, sagte sie. „Ich bin nur hier hineingegangen, weil Sie hineingegangen sind.“
Waren wir also schon zu zweit. Ich marschierte die Schaumburgergasse nach unten, bewundere die Plastik von Tony Cragg, die sich die Wirtschaftskammer geleistet hatte, dann ließ ich mich von den unsichtbaren Leitplanken wieder in sicheres Gelände geleiten.
christian.seiler@kurier.at
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