Leben/Gehen

Christian Seilers Gehen: Das mittelalterliche Wien

Ich gehe durch die Wiener Innenstadt, ein bisschen staubig von den Bauarbeiten auf der Rotenturmstraße, wo bekanntlich eine neue Begegnungszone entsteht. Ich freue mich, denn ich freue mich über jedes Angebot, das uns Fußgängern das Spazieren durch die Stadt angenehmer macht.

Beim Fleischmarkt biege ich ab und gehe zuerst an einer riesigen Sneakerskathedrale vorbei. Sneakers sind, wie ich finde, urdemokratische Fußbekleidungen, jeder kann sie sich leisten, aber nicht jeder Sneaker erfüllt gleichzeitig die Anforderung, einigermaßen vernünftig den Fuß zu kleiden und über den angemessenen Coolness-Faktor zu verfügen. Nur Experten wie meine Freundin Isabella Klausnitzer von weiter vorne (plus eine Million Jugendliche) können mir erklären, welche ich tragen muss und warum meine eher keine gute Wahl sind.

Tja. Ich gehe weiter, bis ich zur Griechengasse komme, eine der kürzesten, aber auch interessantesten Gassen Wiens. Früher ging ich in der Griechengasse gern zum Haareschneiden, der berühmte Figaro Er-Ich hat in einem denkmalgeschützten Bürgerhaus seine Ordination. Einmal fiel ihm der Aufsatz seines Rasiergeräts hinunter, während er mir meine Einheitsfrisur verpasste, ich verließ das Haus also als Skinhead, noch heute erschrecke ich vor der Erinnerung an mein Spiegelbild.

Interessanter ist wohl, dass hier sehr viele historische Schichten der Stadt aufeinander treffen. Der Durchgang vom Fleischmarkt zum Schwedenplatz ist so etwas wie ein tektonisches Nadelöhr, die Passage ist entstanden, nicht geplant worden, und man sieht ihr das an, wenn man knapp vor der prächtigen Fassade der griechisch-orthodoxen Kirche nach links abbiegt, vorbei am offenen Tor des Griechenbeisls, wo der Liebe Augustin ein und aus gegangen sein soll, in die Passage, wo noch heute eine Verordnung von 1912 uns Fußgänger warnt: „Schwerfuhrwerkskutscher haben die Pferde am Zügel zu führen oder eine erwachsene Begleitperson zur Warnung der Fußgänger vorauszuschicken“. Schwer vorstellbar, wie ein Fuhrwerk durch diese Gasse passen soll – da haben schon ein paar von meinen übergewichtigen Freunden ihre Schwierigkeiten …

Hier, an den verschiedenen Enden dieser Stadtlücke, trafen im mittelalterlichen Wien die Wirkungskreise der griechischen Kaufleute, der Fleischhacker und der Hafner aufeinander – ein etwas verwirrendes Fresko am unteren Ende der Stiege zum Hafnersteig kündet vom 750-Jahre-Jubiläum der Wiener Ofensetzer, das schon im Jahr 1984 gefeiert wurde. Von dort unten schaue ich zurück auf dieses einmalige, wie in einer großen Bewegung erstarrte Stadtpanorama. Es ist ein Trichter, eine Zeitmaschine, eine Erinnerung daran, dass hier schon seit vielen hundert Jahren Menschen über diese Stiegen gehen, zum Gottesdienst, zum Wirten, zur Arbeit, zum Rendezvous – zum Friseur. Wie zur Kontrolle überprüfe ich, ob ich eh nicht beim Nachdenken zum Skinhead geworden bin, nein, okay, gut, dann gehe ich weiter, über den Donaukanal, in der Praterstraße gibt es nämlich jetzt japanische Sandwiches.

christian.seiler@kurier.at