Leben/Gehen

Christian Seilers Gehen: Das Horror-Klo von Meidling

Als ich die Meidlinger Hauptstraße bergauf ging, erreichte mich passenderweise direkt über der „Apotheke zum Schutzengel“ ein visueller Hilferuf. Über fast die gesamte Breite des Hauses hing ein Transparent, auf dem protestierende Anwohner klagten: „Wir leiden unter dem Horror-Klo!“  Mir kam das Horrorklo – grau, klein, und eher unscheinbar an die Hausmauer gequetscht – eigentlich für seinen Zweck angemessen proportioniert und vergleichsweise gepflegt vor. Wobei ich nachempfinden kann, dass eine öffentliche Bedürfnisanstalt vor der eigenen Tür kein angenehmer Blickfang ist – außer natürlich, man wohnt am Graben und hat denkmalgeschützte Jugenstiltoiletten im Blick.
Ich könnte beichten, dass ich persönlich sehr erleichtert war, dass ich hier ein sauberes Häusl vorfand und nicht in eines der Wettcafés gehen musste, die sich wie Pilzbefall in der Meidlinger Fußgängerzone angesiedelt haben. Aber als ich das Horrorklo verließ – warum drängte sich dieser Begriff dauernd in den Vordergrund? –, sah ich am Fenster einen Menschen stehen, dessen Blick ich als tadelnd empfand – ich zog meinen Kopf ein und machte mich davon, schlechten Gewissens. Ging hinauf Richtung Meidlinger Bahnhof, ein bisschen ernüchtert von der prosaischen Stimmung der Fußgängerzone, tangierte die Eichenstraße nur kurz und bog in die Wilhelmstraße ein, die stadteinwärts führte und sich dabei – im Vergleich zur eher gesichtslosen, funktionalen Meidlinger Hauptstraße – als Charakterdarstellerin erwies. Ich sah alte Häuser und Hinterhöfe, die den Straßendörfern im Weinviertel ähneln, auch in ihrem bemitleidenswerten Zustand, passierte dafür aber auch interessante Geschäfte wie den Greißler für „Lebensmittel aus Pakistan, Afghanistan, Indien, Iran, Philippinen und Europa“, was ich als fortschrittliches Regionalbewusstsein anerkennen muss.
Zwischen Fünfziger- und Sechzigerjahr-Fassaden sprang mir das schön renovierte, palaisartige Gebäude der „Likör- und Fruchtsäftefabrik Friedrich Fischer“ ins Auge, wo heute ein Schnapsmuseum untergebracht ist. Ich nahm es als Hinweis, wie die Straße einmal gesäumt gewesen sein muss. Das vielleicht interessanteste Detail sah ich im Erdgeschoßfenster eines Gemeindebaus. Dort wurde ohne großen Schnickschnack auf die Existenz eines „Bruno Gröning Freundeskreis“ hingewiesen, Eingang im Durchgang, braune Holztüre gleich rechts.
Nun ist Bruno Gröning ein seit 1959 verstorbener Wunderheiler aus der Nähe von Danzig, der zur „Großen Umkehr“ aufrief und seinen Anhängern versprach, sie mit einem von Gott gesandten „Heilstrom“ von ihren Krankheiten zu erlösen. Der obskure Freundeskreis hat vor allem in Deutschland bis heute seine Anhänger, aber, wie ich versichern kann, auch in Meidling. Das weiß ich, ohne an die braune Holztüre geklopft zu haben.
Ich passierte den Wilhelmsdorfer Park mit seinen schönen Gemeindebausalettln, ging die Flurschützstraße ein Stück entlang und kehrte im „Gasthaus zur singenden Wirtin“ ein, die jedoch nicht sang.
Nichts ist in Meidling, wie es scheint.

christian.seiler@kurier.at

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