Christian Seilers Gehen: Awarakadawara, wo san meine Hawara
Von Christian Seiler
Ich gehe durch die Wiener Innenstadt, es ist einer dieser Sommerabende, die ich mir am liebsten ausschneiden und als Bild an die Wand hängen würde, für schlechtere Zeiten. Ich gehe über die mittelalterliche Mölker Bastei, genieße den Szenenwechsel, als ich über die Freyung spaziere, wo der Himmel plötzlich hoch ist und das Licht gelbstichig. In der freien Republik Kameel wird wie jeden Abend gefeiert, dass hier schon seit 400 Jahren gefeiert wird. Ich überlege, ob ich einstimmen soll, entscheide mich aber dagegen und biege Richtung Judenplatz ab.
Dieser Platz, für mich der schönste in Wien, verströmt seinen eigenen Zauber. Neben der Lessingstatue lasse ich die Geschichtstrunkenheit wirken, dann zieht mich etwas in die Tiefe dieses alten Viertels. Ich gehe hinüber zum Schulhof, dem früheren Judenplatz, und weil ich großes Glück habe, ist im Garten des „Finsteren Stern“ noch ein Tischlein frei, an das ich mich jetzt setze.
Vor mir baut sich die Rückseite der Kirche am Hof auf. Ein Fiaker biegt klackernd um die Ecke und ich höre den Kutscher, wie er einer arabischen Familie die unentbehrliche Information zukommen lässt, dass sich rechts, bitte sehr, das Uhrenmuseum befindet.
Ich bestelle eine kalte Rote-Rüben-Suppe und einen Schluck Wein. Das Licht steigt in die Höhe, unten wird es düster, der Kellner bringt Kerzen im Glas. Am Tisch neben mir eine ausgelassene Gesellschaft, gut und exaltiert gekleidet. Sie haben gut gegessen, eine Flasche Wein getrunken und verhandeln auf absolut urwienerische Weise den Stand der Dinge. Ich erfahre etwas von einem nach Hongkong ausgewanderten Prinzen, werde darüber ins Bild gesetzt, dass Zweifel an dessen Rang bestehe, und erst als eine Dame mit schickem Hut beginnt, ein Lied von Ernst Molden zu zitieren, bei dem ihr partout die zweite Zeile nicht einfallen will, schalte ich mich ins Gespräch ein und helfe aus: Awarakadawara, wo san meine Hawara? Wo san meine Freind wann de Sun ned scheint ...
Ich ernte Dank und werde vom Herrn des Tisches fürderhin als Fritz Molden bezeichnet. Es gibt Schlimmeres. Weil die Suppe sehr gut ist, bestelle ich noch etwas Forellentatar. Das Gespräch am Nebentisch dreht sich inzwischen um die legendäre Alma-Inszenierung von Paulus Manker. Jetzt aber begibt es sich, dass genau dieser Schauspieler und Regisseur in Begleitung einer schönen, jungen Frau, die noch dazu seinen Koffer trägt, auf der Bildfläche erscheint, den Menschen im Gastgarten freundlich zulächelt und hinter dem wunderschön ziselierten Portal des Wohnhauses verschwindet. Das Wunderbare an der Unterhaltung am Nebentisch ist, dass die Überraschung über das leibhaftige Auftauchen des Menschen, der gerade Gegenstand des Gesprächs war, so gering ist wie die Tatsache, dass Wasser nass ist.
So mag ich Wien. Dichtung und Wahrheit verschwimmen höchst selbstverständlich. Der nächste Fiaker biegt um die Ecke, der Kutscher sagt seinen verschleierten Fahrgästen: Hier wohnt der berühmte Schauspieler Paulus Manker. Was er nicht sagt.
christian.seiler@kurier.at
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