Leben

Gefangen in Schönheit

Herzlich willkommen. Wohin man schaut. Man fühlt sich wie in einem alten Stadtteil von Tokio. Überall Japaner. Freundlich lächelnde, gehetzt wirkende Japaner. Ihr Guide sieht aus wie Toshirō Mifune, der in die Jahre gekommene Sieben Samurai-Hauptdarsteller. Zielsicher führt er seine agile, asiatische Truppe von einem kulturellen Höhepunkt zum anderen. Aus den Headsets hört man zwischen den stakkatoartigen Beschreibungen Bruchstücke aus Smetanas Die Moldau. Japanische Führer versuchen Sightseeing ohne Ermüdungserscheinungen zu vermitteln. Ein Mädchen mit violetten Haaren ist am Namesti Svornosti-Platz zurückgeblieben. Sie blättert gelangweilt in einem Manga-Comic-Heftl. Die restliche japanische Gruppe folgt brav ihrem Sieben Samurai-Double. Schnell noch rauf auf die Burg, schnell noch ein Selfie mit Moldau-Blick, schnell noch ein mundgeblasenes böhmisches Glas für Oma in Osaka kaufen. Denn bald geht’s weiter. Die nächste UNESCO-Weltkulturerbe-Stätte, das nächste prachtvolle Freilicht-Museum wartet schon: Hallstatt.

Wir bleiben hier. Nur 70 Kilometer nördlich von Linz. In Cesky Krumlov. An einem magischen Ort, wo man – ohne Touristenhorden – die Gegenwart vergessen könnte. Vor sieben Jahren wurde die kleine Stadt am Rande des Böhmerwaldes von National Geographic auf Platz 16 der schönsten historischen Plätze der Welt gekürt. Wenn einmal ein Zufall, müßige Reiselust oder der Tod Ihrer verehrten Frau Erbtante Sie nach Südböhmen führt, schrieb Rainer Maria Rilke vor 120 Jahren, lassen Sie es sich nicht verdrießen, einen Tag in dem malerisch gelegenen Städtchen Aufenthalt zu nehmen. Damals hieß die kleine Stadt, die in reizender Gefangenschaft der Moldau (Peter Rosegger) von einer Doppelschleife umrahmt wird, Krumau. Rund drei Viertel der Bevölkerung sprachen Deutsch.
Marie, die Mutter Egon Schieles, stammte auch aus Krumau. Im Sommer 1909 war es für Egon endlich mit dem Schulzwang, den Mußzeiten an der Wiener Akademie der bildenden Künste, wo er bereits mit 16 Jahren aufgenommen wurde, vorbei. Der junge Herr fühlte sich als freischaffender Künstler. Mit ständigen finanziellen Engpässen – meist reichte das Geld nicht einmal für seine Mal-Utensilien. Der Neid und die Rivalität mancher Künstlerkollegen und vernichtende Kritiken – menschliche Jammergestalten in perversen, abstoßenden Posen – ließen Schiele im Mai des Jahres 1910 aus Wien flüchten. Gemeinsam mit seinem Lieblingsmodell Wally Neuzil. Die Heimatstadt der Mutter wurde zum Zufluchtsort. Sein extravagantes Auftreten, modisch weiß gekleidet, stets mit Spazierstock und Melone, erregte in der südböhmischen Kleinstadt sofort Aufsehen. Im Café Fink oder im Restaurant Goldener Engel legte der 20-jährige Egon ungeniert seine Füße auf den Tisch. Von der Jugend wurde er adoriert, die ältere Bevölkerung entsetzte der Bohemien aus Wien. Egons Eskapaden wurden immer heftiger, sein Lebensstil immer ausschweifender, die Feindseligkeit der kleinbürgerlichen Krumauer immer stärker. Man war mit der Wahl seiner Akt-Modelle nicht einverstanden, vor allem seine amourösen Abenteuer mit den jungen Mädchen der Kleinstadt wurden bald zum Tagesgespräch. Jeder glaubte zu wissen, dass der Künstler aus Wien Poldi Lodzinsky nicht nur malte. Poldi, die blutjunge Tochter des angesehensten Krumauer Fiakerkutschers …

Nicht nur die Akte, auch die düsteren Landschaftsgemälde der Toten Stadt missfielen der Bevölkerung. Bald wurde Schiele die Entrüstung, die Empörung, die offene Feindschaft, die ihm auf Schritt und Tritt entgegenschlug, zu viel. 1911 floh er aus dem biederen Städtchen Krumau. Heute ist man hier sehr stolz auf Schiele. In diesem Sommer ist nach mehr als 100 Jahren wieder sein Gartenatelier an der Moldau eröffnet worden. Heute dürfen dort Maler und Fotografen ihre Arbeiten ausstellen. Auch Akte ... Und im Egon Schiele Art Centrum in der ehemaligen Stadtbrauerei wird auf 3.000 m² in wechselnden Ausstellungen zeitgenössische Kunst präsentiert. Im Gedenken an den großen Sohn der Stadt.
Cesky Krumlov hatte 700 Jahre großes Glück, die Stadt ist nie zerstört worden. Weder durch Brandkatastrophen, die beiden Weltkriege, noch durch den Dreißigjährigen Krieg. Seit der Öffnung der Grenzen hat sich der Fremdenverkehr (für manche viel zu) stürmisch entwickelt. Heute bietet die autofreie, kopfsteinbepflasterte Altstadt aus dem Mittelalter mit mehr als 300 meist liebevoll restaurierten historischen Häusern ein kompaktes Kulturerlebnis. Gotik-, Renaissance- Barockarchitektur pur. Die restaurierten Fresken und Sgraffiti an den Fassaden erinnern an die Aura und die Vergänglichkeit längst versunkener Tage. In den verwinkelten, verwunschen wirkenden Gässchen entlang der Moldau könnten noch heute der brave Soldat Schwejk mit seinem Hündchen oder Gustav Meyrinks Romanfigur Golem um die Ecke biegen.

Hoch oben thront der imposante Burg-Schloss-Komplex. Seit der Renaissance hatten die Herren von Rosenberg den besten Blick auf die Stadt. Ihre Residenz, umgeben von fast elf Hektar Schlossgarten, ist nur ein wenig bescheidener als der Prager Hradschin. Die Wappentiere der Rosenbergs sind vier Bären. Seit 1707 hält man im engen, düsteren Bärengraben Braunbären. Bis heute. Als makabre Touristenattraktion. Die heftigen Proteste von Tierschützern prallen seit langem auf Unverständnis. Auf der Strecke durch 40 Paläste und fünf Schlosshöfe, nach ermüdenden Führungen durch 320 Säle, sind die Bären in ihrem Verließ für Besucher eine lebendige Abwechslung. Auch wenn die gefangenen Tiere so traurig schauen …

Cesky Krumlov ist auch für sportliche Gäste gewappnet. Wasserfreunde erkunden es von der Moldau aus. Und haben vermutlich die schönere Sicht auf Krumau, die krumme Au, als die Touristenhorden, die durch die Altstadt getrieben werden. Jedes Jahr am zweiten Oktober-Wochenende findet der Wasser-Marathon statt. Viele Hunderte Kanu- und Kajakfahrer aus der ganzen Welt nehmen an diesem einzigartigen Moldau-Marathon teil.
Behutsam bricht der Abend an. Fahles Licht aus den Laternen erhellt die verwinkelten Gassen. Die Tagestouristen sind längst in ihre Busse am Rande der Stadt verfrachtet. Es geht weiter. Richtung Prag, Salzburg oder Hallstatt. In den Wirtshäusern ist man auf die verbliebenen Gäste vorbereitet. In der holzgetäfelten Na louzi-Stube singen die Stammgäste südböhmische Volkslieder. Reichlich Bier und Badel-Sliwowitz. Dazu mit Knoblauch eingeriebenes Schwarzbrot, auf dem sich Gänseleber-Berge türmen. In manchem Gewölbekeller, wie in der Ritterstube Marketa, flackert das Feuer im Kamin. Deftiges wartet auf die erschöpften Fremden. Svickova na smetane (Lendenbraten in Rahmsauce) oder Jihocesky talir (Süd- böhmischer Schmaus: Ente, Geselchtes, Schweinsbraten, Semmel- und Kartoffelknödel – von der Stange in Scheiben geschnitten …). Und fette, gebackene Karpfen, die in mehr als 1.000 Teichen der Umgebung seit dem Mittelalter gezüchtet werden.

In der Apotheka-Bar, der ehemaligen Schwarzenberg’schen Apotheke, vielleicht ein, zwei Verdauungs-Schnapserln. In ein paar Stunden wird hier der Bär tanzen. Die Gin-Auswahl ist gigantisch und es gibt – für die vielen japanischen Freunde – auch Haguro-Sake, den mit den schwebenden, glücksbringenden Goldfäden. Wie die Glühwürmchen-Likörkomposition, die es früher bei unseren Branntweinern gab.
Der Apotheka-Bartender ist muskulös wie Arnie in seiner besten Zeit, die Mädchen sind neugierig. Walk the Moon überdröhnen alles mit ihrem Hit Shut Up + Dance.
Die scheue Jana aus dem Marmeladen-Geschäft gegenüber beklebt den ganzen Tag lang sorgfältig ein Glas nach dem anderen mit handgeschriebenen Etiketten: Marille / Ribisel / Weichsel. Jetzt lässt Jana den Rollbalken hinunter. Zuvor hatte sie mir die Apotheka-Bar empfohlen. Und gemeint, ich solle doch im Winter wiederkommen. Dann gibt es kaum Touristen, Cesky Krumlov kann wieder durchatmen und an den Fenstern sieht man die schönsten Eisblumen der Welt. Denn in einer Stadt, die sich UNESCO-Weltkulturerbe nennen darf, sind moderne Mehrscheiben-Isolierglasfenster verboten.
Ja, Jana. Ich komme im Winter wieder.

Wohnen
Hospoda Na louzi Hotel
Günstiges Hotel mit elf einfachen Zimmern jeder Größe im ersten Stock eines prachtvollen Renaissance-Hauses. Herrliches, holzgetäfeltes Wirtshaus zu ebener Erde.
www.nalouzi.cz

Edward Kelly Hotel
Am Ufer der Moldau mit Blick
auf das Schloss. Gediegener,
romantischer Rückzugsort.
Prachtvolle Terrasse.
www.hoteledwardkelly.cz

Hotel Gold
Historisches Hotel aus dem 16. Jahrhundert im Stadtpark an der Moldau. Eigener, bewachter Parkplatz (nicht unwichtig in Cesky Krumlov).
www.hotelgold.cz

Sehen
Burg- und Schlosskomplex Mit fast 40 verschiedenen sehenswerten Objekten. Vom elf Hektar großen Schlossgarten mit dem Lustschloss Bellarie über den Schlossturm, das Burg-Museum, die goldene Eggenberger Kutsche, über das barocke Schlosstheater bis zum Maskensaal. Mit pittoresken Wandmalereien adeliger Vergnügungen: Harlekine und Pierrots, dressierte Äffchen, maskierte, muntere Damen. www.zamek-ceskykrumlov.eu

Schiele-Gartenatelier
An der Moldau (seit Juni 2015 neu eröffnet) und das Egon Schiele Art Centrum mit 3.000 m² Ausstellungsfläche und 1.500 m² Ateliers für zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler im Renaissance-Komplex der ehemaligen Stadtbrauerei. www.schieleartcentrum.cz

Freiluft-Theater mit einzigartigem drehbarem Zuschauerraum im Schlossgarten. (Von Juni bis
September, Aufführungen von Robin Hood bis Die Schöne und das Biest, von Carmina Burana bis Die
drei Musketiere). www.otacivehlediste.cz

Synagoge Nach langem Ruinen-Dasein liebevoll restauriert. Ausstellungen erinnern an die dunklen Zeiten Böhmens. Bereits 1494 wurden die Juden der Stadt verwiesen. www.ckrumlov.cz/synagoga

Museum Fotoatelier Seidel Behutsam renoviertes Jugendstil-Juwel. Mit einem weltweit einmaligen Schatz von mehr als 140.000 Glasnegativen des Fotografen des Böhmerwaldes Josef Seidel (1859-1935). www.seidel.cz

Essen
Diesmal keine speziellen Tipps. Man isst fast überall recht gut und preiswert – allerdings äußerst deftig. Böhmische Küche pur. Das einzige Lokal mit leichter Küche, eine winzige Sushi-Bar, ist nicht zu empfehlen. Die japanischen Touristen betrachten es als ihr Hoheitsgebiet …

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