Leben

Franz Küberl über das Helfen

freizeit: Herr Küberl, Sie sind heuer 60 Jahre alt geworden. Wie alt fühlen Sie sich nach 18 Jahren an der Spitze der Caritas wirklich?

Franz Küberl: Witzigerweise fühle ich mich etwas jünger. Aber die 60 erinnern einen auch daran, dass man älter wird.

Macht Sie der Abschied traurig?

Überhaupt nicht. Das ist der Lauf der Zeit. Ein geliehenes Amt soll man beizeiten zurückgeben. Ich habe das ja selbst entschieden. Ich spüre auch eine große Entlastung. Die Caritas ist in den vergangenen 18 Jahren stark gewachsen. Deshalb ist der Posten des Präsidenten eine größere Aufgabe und mehr Verantwortung denn je.

Nicht jeder möchte der Armut täglich ins Gesicht sehen. Warum haben Sie sich seinerzeit dazu entschieden?

Ich bin in einfachen Verhältnissen aufgewachsen und war längere Zeit Pflegekind. Ich habe mit meiner Mutter und dem Stiefvater elf Jahre in einer Kellerwohnung gelebt. Sie waren Hausmeister und meine Mutter war immer berufstätig. Zuerst als Wärterin, später als Krankenschwester in der Grazer Nervenklinik. Das hat mich immer begleitet. Nicht als Gram, sondern als Grunderfahrung, wie es „unten“ ausschaut.

Sie waren auch der erste nichtgeistliche Kandidat für den Posten. Woher kam Ihre Verbundenheit zum Glauben?

Ich war als Kind elf Jahre Ministrant und später in der katholischen Arbeiterjugend. Da habe ich im sozialen Engagement einiges dazu gelernt. Der Glaube kommt mit der Zeit – wie Jahresringe. Es gibt bei den katholischen Briefen einen Jakobusbrief. Dort steht, dass der Glaube ohne Werke tot ist. Das hat mir eingeleuchtet.

Wann haben Sie begonnen, in der Bibel zu lesen?

Man wächst mit bestimmten Dingen auf. Meine Mutter ist mit mir schon als kleines Kind in die Kirche gegangen. Als Ministrant habe ich dann ungeheuer viele Evangelien- und Lesungs-Stellen immer wieder gehört. Und wenn jemand zum Beispiel von der Bergpredigt erzählt hat, dann habe ich eben nachgelesen.

Wo liegt Ihrer Meinung nach der Wert, sich mit der Bibel zu beschäftigen?

Es stehen viele gute Sachen drinnen. Die Menschen denken sich oft: ‚Jessas, wenn ich das lese, muss ich tun, was drinnen steht. Da verzichte ich lieber.‘ Es geht aber eher darum, sich anzuschauen, wie Jesus Dinge formuliert hat. Ein Evangelium oder einen Apostelbrief in einem Zug zu lesen, ist sehr viel. Ein, zwei Seiten reichen. Man muss auch reflektieren. Ich mag zum Beispiel die Psalmen oder das Buch der Sprüche. Man erkennt beim Lesen die Lebensweisheit, die drinsteckt.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Nehmen wir die Gottes-, die Nächsten- und die Selbstliebe. Bei der Gottesliebe geht es darum, dass der Herrgott alle Menschen gleich mag. Ein spannender Blick, wenn man das verinnerlicht. Und über die Nächsten- und Selbstliebe sagt der Herr Jesus: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst.‘ Mehr ist gar nicht nötig. Das gilt auch in der Caritas. Ich kann keinen Mitarbeiter gebrauchen, der sich selbst nicht mag. Wer sich selbst nicht riechen kann, stinkt auch anderen. Und man darf sich auch selber mögen, weil der Herrgott mag einen ja eh.

Selbstliebe gehört mitunter zu den schwierigsten Herausforderungen.

Ich bin selbst ein Plagender unter sich Plagenden und tu mir genauso schwer wie alle. Aber als ich die Zusammenhänge kapiert habe, habe ich mir leichter getan. Ich sage oft zu Mitarbeitern, wie wichtig es ist, auf sich zu schauen. In sich selbst hineinzuhören, was zu lesen und, pardon, gepflegt auszuschauen, sind Grundvoraussetzungen, um zu kommunizieren. Erst dann kann ein anderer von einem Gespräch mit mir profitieren. Das hängt nämlich damit zusammen, was ich mir an Wissen und Selbstreflexion erarbeitet habe.

Weil Sie davon sprechen, gepflegt auszuschauen. Erst kürzlich hat die Dresdner Tafel von einem Kaufhaus Luxus-Kleidung im Millionenwert geschenkt bekommen. Die Sachen werden versteigert. Wäre es nicht auch okay, einem armen Menschen einmal etwas besonders Schönes zukommen zu lassen?

Ich glaube nicht, dass es gut wäre, das nächste Obdachlosenheim mit Luxusmarken auszustatten. Man muss aufpassen, was man damit bewirkt. Aber ich weiß von einem tollen Ehrenamtlichen in Graz, der mit Obdachlosen in die Oper gegangen ist. Da hat er auch in unserem Fundus gesucht und alle mit einem Anzug oder Kleid ausgestattet. Mit dem Obdachlosengwandl kann man nicht in die Oper gehen.

Daraus müsste man schließen, dass es gut ist, sich schön zu machen.

Es gibt etwas, das mich sehr berührt, wenn wir vom Aussehen reden. Wir haben ein Mal im Jahr den Marienstüberlball in Graz. Ich gehe wahnsinnig gerne dorthin, weil ich meine Leute kenne und weiß, wie schwer und herb sie unterm Jahr oft daherkommen. Es ist erstaunlich, wie sauber sie sich herrichten, wenn sie einen Grund haben. Der Ball ist ein Grund. Und es ist sehr beeindruckend, zu sehen, wie viel Schönheit in armen Leuten wohnt.

Viele schauen bei Armut weg, Sie schauen hin. Ist das nicht manchmal belastend?

Der Kern der Sache ist: Ich schaue nie die Armut an, sondern immer den Menschen. Was Sie sagen, führt mich zu einer wesentlichen Grundfunktion der Caritas, über die wir nicht so oft reden. Ich behaupte, dass die Caritas mitwirken muss, dass die Reichen die Armen sehen können. Deshalb muss man kein Armengaffer werden. Ein Armer ist kein Lustobjekt. Aber das Training, einem Armen ins Gesicht zu schauen, würde ich jedem zumuten.

Die Schauspielerin Adele Neuhauser hat mir gesagt, dass es mit der Hilfe schwierig ist, wenn am Naschmarkt jeder Zweite Geld oder eine Zigarette von dir will.

Da bin ich nicht so weit weg von Frau Neuhauser. Man kann nicht jedem etwas geben. Meine Formel ist, dass ich Leuten ab und zu was gebe, um im Training zu bleiben. Das ist kein intellektueller Vorgang, ob ich was gebe oder nicht, sondern ein intuitiver. Manchmal denke ich mir: „Jetzt ist es wieder Zeit Franzl.“ Geben löst natürlich das Problem nicht, aber es erhält sozusagen die Teilungsfähigkeit. Ich sage aber auch: Es gibt das Recht, jemandem etwas nicht zu geben.

In vielen Büchern über das Glück heißt es aber, dass Geben glücklich macht.

Bei der Solidarität und beim Helfen gibt es verschiedene Schichtungen. Dazu zählt auch das sogenannte „Helpers High“. Mittlerweile wurde neurologisch erwiesen, dass Helfen Glücksgefühle auslöst. Das halte ich für eine kluge Konstruktion des Gesamtkunstwerkes Mensch. Man stelle sich das Gegenteil vor.

Sind wir Österreicher hilfsbereit?

Bei großen Katastrophen wie auf den Philippinen, blitzt immer wieder durch, dass die Welt „ein Dorf ist“ und nur aus guten Nachbarn besteht. Es gibt aber auch Momente, wo man Organisation, Werbung oder Plakate braucht, um die Leute zur Solidarität einzuladen. Gesamt gesehen haben wir etwa eine Million Menschen, bei größeren Katastrophen eineinhalb, die wissen, was zu tun ist. Man kann selbst entscheiden, ob man spenden will oder nicht. Aber es gibt nicht das Recht, prinzipiell unsolidarisch zu sein. Keiner kann nur für sich überleben.

Sie selbst waren nach einem schweren Unfall 2002 auch auf Hilfe angewiesen. Wie sehr hat Sie dieses Erlebnis geprägt?

Extrem, auch wenn ich mich an nichts erinnern kann. Den Erzählungen nach muss es so gewesen sein, dass ich in der Früh spät dran war. Ich wollte um halb acht zu einem Gottesdienst gehen, bin flott aus der Dusche und dann offenbar mit dem Kopf gegen das Waschbecken gedonnert. Es haben an diesem Tag etwa 40 Leute mit mir gearbeitet, damit ich überlebe.

Was ist Ihre stärkste Erinnerung an die Zeit danach?

Ich war schon auf Reha und ungeheuer hospitalisiert. Es war normal für mich, dass sich alles um mich gedreht hat. Bis eines Tages eine alte Frau im Rollstuhl zu mir gesagt hat: „Bin ich froh, dass es Ihnen besser geht.“ Da ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Ihr ging es viel schlechter, sie hatte aber die Kapazität, mir so etwas zu sagen. Durch diese Frau habe ich kapiert, dass es nicht nur um mich geht. Pathetisch gesprochen war das ein Wiedererweckungs-Erlebnis.

Glauben Sie an Schutzengel?

Eine gute Frage. Ich bin kein großer Schutzengeltheoretiker. Ich sag mal so: Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass mich der Herrgott nochmal aufstellen wollte.

Sie bleiben Landes-Direktor in Graz. Was machen Sie mit der gewonnenen Freizeit?

Haushalten. Mehr Zeit mit der Familie verbringen und lesen. Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ zum Beispiel, oder „Die Idee der Gerechtigkeit“ von Amartya Sen. Und es gibt in der Steiermark alleine 800 2000er – ich habe erst 120 bestiegen.

Sie wollten auch auf den Kilimandscharo, mussten aber vor dem Gipfel umkehren. Werden Sie einen neuen Versuch wagen?

Für mich war es schon eine tolle Geschichte, dass ich durch fünf Klimazonen gewandert bin. Ich weiß noch nicht, ob ich es noch einmal probiere. Am Anfang des Interviews habe ich Ihnen ja gesagt, dass ich mich jünger als 60 fühle. Ich würde also sagen, die Chance lebt.