Leben/Family

Literatur zum Vorlesen: "Das Weihnachtslama"

Die meisten Weihnachtstraditionen sind schön. Doch leider nicht alle.

Seit die Eltern von Hannah, Max und Ella geschieden waren, hatten sie es zur Tradition gemacht, jedes Weihnachten zu streiten, bei wem die Kinder dieses Mal feierten. Wobei sie das niemals „streiten“ nannten, sondern „angeregt diskutieren“. Heuer war ihr Papa dran, und wie die Kinder befürchtet hatten, weinte ihre Mama schrecklich, als er sie zwei Tage vor Weihnachten abholte.

Seit Kurzem wohnte er in einem großen Haus am Land. Er sagte, dort könne er so cool sein, wie er wollte. Es gab nämlich keine Nachbarn, dafür unzählige Wälder, Wiesen, einen Bach, und viele Rehe. Doch das fand keines der Kinder besonders cool. „Wie ist der Code vom WLAN?“, fragte Hannah bei der Ankunft und ging in ihr Zimmer, um Selfies zu machen. „Was gibt’s zu essen?“, fragte Max. „Nudeln und Salat“, antwortete Papa. Wie immer, denn er konnte nichts anderes als Beilagen kochen. Hauptspeisen waren immer Mamas Aufgabe gewesen. Max nahm sich einen Teller Nudeln mit Ketchup, dazu einen Liter Kakao, und setzte sich vor den Fernseher. Ella und ihr Papa spielten Uno. Andere Spiele hatte er nicht. Doch Uno zu zweit zu spielen, war so lustig wie Radfahren mit gebrochenen Beinen. Also ging sie früh ins Bett. Durch die dünnen Holzwände hörte Ella, wie sich ihr Bruder wälzte, weil er zu viel gegessen hatte. Ihre Schwester sah sich Handyvideos an. Und Ella fühlte sich schrecklich einsam. Wie es wohl ihrer Mama ging?

Sie hatte seit Kurzem einen neuen Freund, einen ziemlichen Besserwisser. Wahrscheinlich hielt er ihr gerade einen Vortrag über Energiesparlampen. Besserwisser glauben nämlich, mit Wissen Menschen aufheitern zu können. Aber Ella war sich sicher: wenn man jemanden vermisst, macht das eine Glühbirne nicht besser.

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Am Tag vor Weihnachten wachte Ella als erste auf, weil sie im Garten Geräusche hörte. Ein rostiger Kübel kugelte zu Boden, und ein Rumps ertönte, als ob jemand den Holzstoß umgeworfen hätte. Rehe, dachte sie. Sie ging in die Küche, um Wasser zu trinken.

Doch als sie aus dem Küchenfenster sah, erschrak sie: Da stand ein Tier im Garten! Es war so groß wie ein Pony, aber schlanker. Hatte weißes Fell, aber struppig. Ein Gesicht wie ein Schaf, nur schmaler. Wilde wuschige Stirnfransen, wie Hannah nach dem Aufstehen, und Hasenzähne wie Max als kleiner Bub. Es kaute genüsslich an einem Büschel Gras. Dann spuckte es gegen die Fensterscheibe.

„Papa, Hannah, Max!“, rief Ella aufgeregt, „da steht ein Lama im Garten!“ Erst als sie ihnen die Bettdecken wegnahm, wackelten die drei wie Schlaf-Zombies nach unten. „Wehe, das hast du dir ausgedacht“, sagte Hannah. „Mir ist schlecht von gestern“, raunzte Max.

„Lamas leben in den Anden, nicht in den Alpen“, sagte der Papa. Doch als sie in der Küche ankamen, rissen sie die Augen auf. Hannah legte sogar ihr Handy beiseite. Max fragte: „Können wir es behalten?“ „Auf gar keinen Fall!“, schrie der Papa. Max seufzte: „Das ist nicht cool.“

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Als das Lama zu Mittag noch immer im Garten stand, beschlossen sie, mit ihm spazieren zu gehen. „Vielleicht führt es uns zu seinem Zuhause“, meinte der Papa.

Sie zogen sich warm an und gingen los, immer dem Lama hinterher. Das Lama trottete den Hügel hinter dem Haus hinauf in den Wald, wo es einen Feldweg einschlug, von dort auf einen Hasenpfad bog, der durchs dichte Unterholz führte. Sie überquerten einen Bach, und eine malerische Lichtung. Sie gingen und gingen und es wurde kälter und dunkler. Die Geschwister hielten sich an den Händen, wie sie es schon lange nicht mehr getan hatten. Bald war es so finster, dass nur noch Hannahs Handytaschenlampe Licht spendete.

Endlich blieb das Lama stehen. „Da wären wir wieder“, sagte der Papa frustriert. „Was?“, schrien die Kinder und tatsächlich: das Lama war mit ihnen stundenlang bergauf, bergab, durch Wälder und Bäche, über Stock und Stein marschiert, und nun waren sie wieder da, wo sie losgegangen waren. Vor ihnen lag die Rückseite von Papas Haus.

„Wir lassen die Gartentür offen, vielleicht geht das Lama in der Nacht zurück“, sagte der Papa. Das Lama blieb im Garten zurück und sah ihnen hinterher, bis der Papa die Haustür schloss. Drinnen war es wohlig warm. Es roch nach dem Holz, das im Kamin brannte und Bratensaft ohne Braten, den der Papa für die Knödel aufwärmte. Die Kinder zogen die klammen kalten Jacken aus und wuschen sich die Hände.

„Was frisst das Lama zu Abend?“, fragte Max. „Das findet schon was“, sagte der Papa, doch die Kinder konnten nicht aufhören, an den Gast im Garten zu denken. Sie aßen schweigsam, keinem schmeckte es. Immerhin stand draußen in der kalten Nacht ein Lama, das sich wahrscheinlich verlaufen hatte. Vielleicht hatte es eine Familie, die es vermisste? Oder ein warmes Zuhause, nach dem es sich sehnte?

Plötzlich blickte Hannah von ihrem Handy auf: „Es schneit!“ Und wirklich: draußen tanzten weiche Flocken vom Himmel. Flocken so dick wie Wattebüschel, die sogar am Fensterbrett liegen blieben.

„Wird dem Lama kalt?“, fragte Ella. „Das hat ein dickes Fell“, antwortete der Papa. Das Lama blickte sehnsüchtig in die erleuchtete Stube und klapperte mit den Zähnen.

Max fragte: „Was frisst es, wenn sein Essen eingeschneit ist?“ „Es geht sicher nachhause“, antwortete der Papa. „Und wenn es den Weg im Schnee nicht mehr findet?“, fragte Ella. „Genug mit dem Lama“, sagte der Papa streng. „Nicht cool“, flüsterte Max.

Die Kinder räumten den Tisch ab. Keines konnte aufhören, zu dem Lama zu schauen. Es stand nah am Fenster, um unter dem Vordach Schutz zu suchen. „Papa“, sagte Ella leise, „morgen ist Weihnachten.“ Er sah sie streng an. Dann seufzte er, hielt die Luft so lange an, dass die Kinder schon befürchteten, er würde gleich umfallen.

Erst als er rot anlief, sagte er: „Das Lama darf im Vorzimmer schlafen. Aber den Dreck müsst ihr morgen aufräumen!“ Lange ließ sich das Lama nicht bitten.

Kaum, dass ihm die Kinder die Tür öffneten, trottete es aus dem Schneegestöber hinein und steckte sein Maul glücklich in einen Kübel Heu, den ihm der Papa servierte. Es schmatzte zufrieden, während die Kinder sein Fell mit alten Handtüchern trocken rieben. Heute wollte niemand fernsehen, stattdessen setzten sie sich im Wohnzimmer an den Kamin, und beobachteten das Lama. Irgendwann knickte das Tier seine großen Vorderläufe ein, und streckte sich auf dem alten Teppich aus. „Cool“, sagte Max.

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Am nächsten Morgen war das Lama weg. Ella suchte es sofort nach dem Aufstehen, aber weder im Haus noch im Garten fand sie das Tier. Nur der Gestank im Vorzimmer bewies, dass sie nicht geträumt hatte. In der Küche bereitete der Papa Beilagen für das Weihnachtsessen vor. „Das Lama wurde heute früh abgeholt“, erklärte er. „Es gehört einem Bauer aus dem nächsten Ort.“

Ella gab sich Mühe, ihre Enttäuschung nicht zu zeigen. Sie war froh, dass das Lama wieder in seinem Zuhause war. Aber trotzdem war es schön gewesen, jemanden zu Gast zu haben. Heute war schließlich Weihnachten, das Fest des Zusammenseins. Max blieb den ganzen Tag im Bett. Hannah starrte in ihr Handy, und Ella schaltete aus Langeweile den Fernseher ein: es waren dieselben Filme wie letztes Jahr.

Der Tag zog sich dahin wie Kaugummi. Ella blickte viel aus dem Fenster, aber außer schneebedeckten Wiesen und Bäumen gab es nichts zu sehen. Nicht einmal Rehe.

Als es dunkel war, und die Kinder sich gerade für die Bescherung umzogen, klingelte plötzlich die Türglocke. „Das Lama ist zurück!“, schrie Ella freudig, und lief mit ihren Geschwister ins Vorzimmer, doch als die Tür aufging, wartete eine viel größere Überraschung auf sie: Draußen standen ihre Mutter und deren Freund.

Sogar die Oma hatten sie mitgebracht und im Hintergrund kämpfte sich Tante Margits Auto über die schneebedeckte Einfahrt. Die Kinder konnten ihr Glück kaum glauben: Seit sie denken konnten, waren sie entweder bei Papa oder Mama gewesen, hatten entweder mit Oma oder Tante Margit gefeiert: aber noch nie mit allen zusammen!

„Ich hab eine Hauptspeise mitgebracht!“, sagte die Mama und Ella merkte, wie erleichtert der Papa war. „Sie hat sogar die richtige Temperatur“, sagte der neue Freund und erklärte allen, wie eine Warmhaltebox funktioniert. Niemanden störte das. Denn wenn man glücklich genug ist, nerven weder Wimmerl noch Gelsenstiche und schon gar nicht unveränderliche Besserwisser. Als die Familie wenig später um den Esstisch saß, hob der Papa sein Glas und sagte: „Ich dachte mir, wer Platz für ein ausgewachsenes Lama hat, hat auch Platz für andere Menschen.“

„Echt cool“, sagte Max grinsend. Dieses Weihnachten war die Bescherung Nebensache. Die Familie war zusammen, und anstatt zu streiten oder zu diskutieren, erzählten sie einander Geschichten. Alle freuten sich, miteinander den Baum zu bewundern. Und sogar die Weihnachtslieder klangen im Chor schöner und heller.

Bevor Ella in dieser Weihnachtsnacht glücklich schlafen ging, blickte sie nochmals aus dem Küchenfenster. Kurz war ihr, als sah sie ein Stummelschwänzchen im Dunklen verschwinden. Schnell lief sie in den Garten, doch kein Lama nirgendwo. Nur frische Hufspuren durchzogen den Schnee. War das Lama zurückgekehrt, um nach dem Rechten zu schauen? Oder waren es bloß die Rehe? Wer weiß, wer weiß.

Und die Moral von der Geschicht’:

Lamas braucht man,

Feindschaft nicht!