Leben

Ephesos lebt

Es wuselt auf dem Boulevard. Menschen flanieren, hetzen und shoppen. Kleine Geschäfte drängen sich dicht aneinander, Stoffe, Kosmetika und Schmuck, dazu Kurzwaren aller Art, dazwischen Garküchen und Lokale. Hausfrauen kaufen „Food to go“ für die ganze Familie, Männer sitzen vor Tavernen, trinken Wein, schauen den Frauen nach, machen Witze und schimpfen über die Zuwanderer aus dem Westen, dem Norden, dem Süden und dem Osten. Zur römischen Kaiserzeit, also vor gut 2.000 Jahren, war Ephesos eine echte Boomtown. Etwa 200.000 Einwohner lebten hier, was die zu dieser Zeit schon alte Siedlung an der kleinasiatischen Küste zu einer der größten Städte der damals bekannten Welt machte.

„Es geht in der Archäologie auch um Erkenntnisse zum Verhältnis Mensch und Umwelt. Welche Auswirkungen hat unser Handeln?“

SABINE LADSTÄTTER, Direktorin des Österreichischen Archäologischen Instituts und Grabungsleiterin in Ephesos

Wer heute über die Marmor- und Kalksteinplatten des besagten Boulevards, der sogenannten Kuretenstraße, schlendert, braucht gar nicht viel Fantasie, um ihn wieder mit buntem, überbordendem Leben zu füllen. „Die besten Pfannen und Töpfe des Reichs“, ruft ein Mann aus seinem Laden gleich hinter dem Herakles-Tor, „Kichererbsen mit Zwiebeln und Cumin“, gibt’s als Tagesgericht in der Taverne daneben, natürlich nur mit feinstem „Garum Sociorum aus Carthago Nova“ gewürzt, wenn’s stimmt, aber wahrscheinlich streckt der Wirt die beliebte Fischsoße, quasi das Maggi der alten Römer, doch mit billig produzierter heimischer Ware. Weiter vorn in Richtung der imposanten Celsusbibliothek sitzen Männer mit gerafften Tuniken Seite an Seite in der öffentlichen Toilettenanlage und diskutieren über Politik. Die Chefin eines Bordells, die den Mädels gerade das Essen bringt, betrachtet das „hic ego puellas multas futui“-Graffito eines übermütigen römischen Kunden und nickt zufrieden. „Hier hab ich viele Mädchen ge...“ – gut so, gegen Gratiswerbung ist nichts einzuwenden. Die Devotionalienhändler, die mit Statuetten der „Artemis von Ephesos“ gutes Geld verdienen, ärgern sich noch immer über einen gewissen Paulus, der ihnen mit einer neuen Religion das Geschäft vermasseln wollte und auf der anderen Seite der Kuretenstraße, ein wenig den südlichen Hügel hinauf, wurden gerade zwei luxuriöse Hanghäuser fertiggestellt, mehrgeschoßige Wohnanlagen der lokalen Oberschicht. Nicht mehr weit, und man ist beim Theater, dem schon vom Meer aus sichtbaren Prachtbau der Stadt mit über 20.000 Sitzplätzen.

Seit die Römer in Ephesos das Sagen haben, hat sich hier auch das Programm entscheidend geändert. Die alten Dramen und kultischen Zeremonien kämpfen gegen die immer stärkere Konkurrenz der blutigen römischen Reality Shows: Gladiatorenkämpfe bringen nun das Publikum zum Toben. Setzen wir uns hin, schließen wir die Augen und hören das Klirren von tödlich scharfem Metall auf Metall, das schwere Atmen der Kämpfer, die begeisterten Rufe und Gesänge Abertausender Fans ... Ephesos ist ein magischer Ort. Wie kaum sonst wo wird hier Geschichte lebendig. Und bietet gleichzeitig immer neue Erkenntnisse. „Wir können heute ganz konkret sagen, dass es die Römer waren, die die Wälder im Umland rodeten“, sagt Sabine Ladstätter, die Direktorin des Österreichischen Archäologischen Instituts, das seit 118 Jahren für die Ausgrabungen in Ephesos zuständig ist.

Mit 100 x 75 Metern war das Serapeion, eine Platzanlage mit Tempel, eine der größten Anlagen der Stadt.

Was uns dieses Wissen bringt? „Es geht in der Archäologie auch um Erkenntnisse zum Verhältnis Mensch und Umwelt“, erklärt Ladstätter weiter. „Die Römer haben für die reiche, ständig wachsende Stadt eine intensive Landwirtschaft aufgebaut. Durch die massive Rodung kam es aber auch zu Bodenerosion, in weiterer Folge zur Versandung des Hafens.“ Schon die nachfolgenden Byzantiner hatten Probleme, der Hafen wurde verlegt – heute liegt die gesamte Stadt einige Kilometer im Landesinneren, sogar das benachbarte Selçuk sitzt längst auf dem Trockenen. Der anfangs erwähnte Hype war also bereits der Anfang vom Ende, das ungebremste Wachstum brachte den Untergang.

Durch eine Analyse der Pollenprofile wurde im vergangenen Frühjahr nachgewiesen, dass der Ausbruch des Vulkans von Santorin bereits 1.500 Jahre vor dem „römischen“ Ephesos auch hier zu fundamentalen Veränderungen in der Vegetation geführt hat. Mit gravierenden Auswirkungen für die dort lebenden Menschen. Über die wir erstaunlich wenig wissen. Denn obwohl die österreichischen Archäologen sogar eine Besiedlung bis um 7.000 vor Christus dokumentieren konnten, liegt die besagte Zeit noch im tiefen Dunkel. Zwar geht Ladstätter wie die meisten ihrer Kollegen davon aus, dass Ephesos mit Apasa, der geheimnisvollen Stadt des bronzezeitlichen Reichs von Arzawa, das so eng mit den Mythen der Mykener, Hethiter und Homers Trojanern verknüpft ist, übereinstimmt: „Aber bisher konnten wir von dieser Stadt keine Spur finden.“

Die Suche geht jedenfalls weiter. Was uns als viel Zeit erscheint, relativiert sich im Vergleich mit den zurückliegenden Jahrtausenden und den unzähligen Generationen von Menschen, die zu allen Zeiten in dem uns so vertrauten Gefühl lebten, es mit der modernsten aller möglichen Welten zu tun zu haben. Und was immer die Arbeit von Sabine Ladstätter und ihrem Team zu Tage bringt – so viel steht fest: Die Zukunft der Vergangenheit bleibt spannend.

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