Leben

Musik liegt in der Luft

Wien ist anders. Das weiß auch Bryan. Der junge Amerikaner war als Straßenmusiker schon in Glasgow und überall in Frankreich, in Italien, wo er monatelang in Bologna Station machte, und schwärmt von seinem letztjährigen Trip nach Istanbul. Dort begleitete er als Perkussionist einen schottischen Dudelsackspieler. "Die Menschen waren begeistert, waren neugierig auf eine andere Kultur", sagt er. Die auch er nicht mit der Muttermilch aufgesogen hat. Der 25-Jährige aus Florida ist ausgebildeter Bariton, hat in Schottland seinen Bachelor gemacht und steht jetzt am Wiener Konservatorium kurz vor dem Master. Dazu hat er klassische Gitarre und Mandoline studiert. "Aber ich lerne selbst gern neue Musik kennen – und auf der Straße zu spielen, ist einfach eine unglaublich spannende Erfahrung." In Wien halten sich seine spannenden Erfahrungen allerdings in Grenzen. "Ich weiß nicht, die Sache mit den Platzkarten und dem Ansuchenmüssen, Behördenstempel und so – das widerspricht doch der grundsätzlichen Idee des Straßenmusikers. Da geht’s doch um Freiheit, Ungebundenheit …"

Ein Grundsatz, den auch der 18-jährige Londoner Roderick David Stewart unterschrieben hätte, als er in den frühen 1960ern mit einem Kumpel durch Frankreich trampte, in Paris nachts unter Brücken schlief und tagsüber Musik machte, um schließlich in Barcelona seine Zelte aufzuschlagen. Kein Geld, aber eine Gitarre, kein Haus, aber den ganzen Himmel über sich, wenn er sich hinlegte. Nach einem Jahr wurde er wegen Landstreicherei aus Spanien ausgewiesen. Als Rod Stewart machte der junge Straßenmusiker wenig später Weltkarriere.

Bryan lacht. "Ja, die Weltkarriere … Aber ich bin mir sicher, an die hat er als Straßenmusiker in Spanien nicht gedacht. Du willst spielen, leben, deine Musik machen – darum geht's. Dass man auf der Straße entdeckt wird, ist zwar eine Art Mythos – aber so selten, dass man daran gar nicht denkt. Geschweige denn, damit rechnet." Bryan wurde auf der Straße von Gerald Mair, dem Dirigenten der Wiener Klangvereinigung, entdeckt und durfte mittlerweile auf einer Gala des Orchesters in Lienz singen.

Der albanische Geiger Shkelzen Doli strandete in den frühen 1990ern in Wien, spielte vor dem Südbahnhof – und ist heute Mitglied der Wiener Philharmoniker. Die Akkordeonisten Krzysztof Dobrek und Martin Lubenow wurden gefeierte Mitglieder der heimischen Jazz-Szene. "Klar, wenn was passiert, ist es schön. Aber du darfst es nicht darauf anlegen – denn dann wirst sehr schnell sehr enttäuscht sein. Du kannst nicht für einen imaginären Talentscout singen, sondern nur für die Menschen, die um dich sind. Und die merken sehr schnell, ob du ehrlich bist. Ob’s dir wirklich Freude macht, für sie zu singen. Es gibt keinen direkteren Test für einen Musiker als die Straße. Und wenn du die Leute begeisterst, kannst du auch Kohle machen."

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100 bis 200 Euro pro Stunde verdiente Bryan an guten Tagen in Bologna, und auch letzten Herbst in Istanbul konnte er sich nicht beklagen. "Mein schottischer Freund und ich hatten allerdings eine Abmachung: Wenn wir uns abends schlafen legten, durften wir kein Geld mehr haben. Wir lebten wie die Götter." Probleme mit der Polizei waren bei der angespannten Lage in der Türkei zwar an der Tagesordnung, "aber es waren immer die Leute von der Straße – Geschäftsbesitzer, Nachbarn, Marktbesucher und Passanten –, die uns in Schutz genommen haben. Das war eine Solidarität, die mir Gänsehaut gemacht hat, so schön war das."Auf der Straße lässt Bryan selten die große Opernstimme raushängen. Er macht Singersongwriter-Sachen, streut hin und wieder einen von ihm ins Englische übersetzten und bearbeiteten Franz Schubert ein – eine Idee, die er mittlerweile auch mit seiner Wiener Band "The Erklings" verfolgt. Er spielt an den wenigen "freien" Plätzen der Stadt, vor U-Bahn-Ausgängen, oder bis er eben verjagt wird. Ich hab ihn im MuseumsQuartier getroffen. Nur so als Tipp …

"Als wir in Istanbul auf der Straße spielten, hatten wir eine Abmachung: Wenn wir uns schlafen legten, durften wir kein Geld mehr haben. Wir lebten wie die Götter."

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Neben dem MuseumsQuartier sitzt ein Mann mit einem Pferdekopf. Eine fast surreale Erscheinung, die gängige französische Walzer und Tangos spielt. In einem Torbogen daneben steht ein junger, schwarzhaariger Mann. Er heißt Alex. Sein Vater steckt unter der Pferdemaske. ",Cal’, das Pferd, ist für uns in Rumänien sehr wichtig. Vieles von unserer Musik und der Calusari, unser wichtigster Volkstanz, sind von ihm beeinflusst", sagt er. Warum spielt er dann keine rumänischen Lieder? Alex zuckt die Achseln, lächelt, und sein flaumiges Schnauzbartensemble erinnert ein wenig an Orlando Bloom als Pirat: "Die Leute hören lieber, was sie kennen. Und wir müssen Geld verdienen." Nach kurzer Überlegung geht er zu seinem Vater und flüstert etwas ins Ohr des Pferdekopfes. Der Mann entlockt den Tasten seiner Harmonika eine unglaublich schöne Melodie. "Cand eram tanar fecior", sagt Alex zu mir. "Ein altes Volkslied. Jeder Rumäne liebt es." Ich auch. Alex hat die ersten Akkordeonstunden von seinem Vater bekommen, als er vier Jahre alt war. So hat der Pferdekopf einen weiteren Zweck. Die beiden wechseln sich ab, ohne dass es auffällt. Das ist vor allem bei winterlichen Temperaturen ein Vorteil. "Niemand merkt den Unterschied", sagt Alex und zeigt wieder sein Piratenlächeln. "Außer diejenigen, die sich wirklich gut auskennen. Denn mein Vater ist immer noch besser als ich."

Es wird Abend, wir gehen weiter Richtung Innenstadt. Am Eingang der Kärntner Straße spielt ein Mann mit seinem Knopfakkordeon eine etwas verwaschene High-Speed-Version von Mozarts Rondo Alla Turca. Ein älteres Pärchen sitzt ihm gegenüber frierend auf einer Bank und lauscht andächtig. Die beiden sind aus Mailand. Sie haben ihn gestern schon gesehen, "vorn, bei eurer Kirche", sagt der Mann. Morgen fahren sie wieder nach Hause. Vier Tage Wien, ihr erster Trip nach Österreich. Wien war schön, jetzt freuen sie sich wieder auf daheim. "Eure Oper ist nicht schlecht", sagt die Frau, "aber unsere Scala …" Sie führt ihre Fingerspitzen zum Mund und lässt den Kuss schmatzend und mit großer Geste auf die Kärntner Straße los. "Aber der Mann ist fantastisch", sagen die beiden zum Abschied mit roten Nasen und leuchtenden Augen. "Ich gebe keine Interviews", sagt der Akkordeonspieler.Dann, Richtung Steffl: Noch eine Ziehharmonika. Und noch eine. Eh schön, aber doch ein wenig inflatorisch.

Wien scheint nicht der Boden zu sein für klassische Songwriter à la Guthry, Dylan, Cohen – oder von mir aus Schönsängerinnen wie Madeleine Peyroux. Auch die sympathischen Akustik-Punks der Violent Femmes haben doch auf der Straße angefangen, bis sie von der großen Chrissie Hynde eingeladen wurden, spontan als Vorband für ihre Pretenders aufzutreten, damals an einem regennassen Abend vor dem Oriental Theatre in Milwaukee. Aber Wien ist anders. Eine hübsche schwarzhaarige Frau, die sich, als Sopran verkleidet, direkt vor dem Haas Haus durch Andrea Bocellis "Time To Say Goodbye" quält, scheint diese Arbeitshypothese zu bestätigen. Gib den potenziellen Zuhörern das, von dem du glaubst, dass sie es wollen? Und in Wien gibt’s dann bald nur mehr Nannerln und Wolferln, womöglich noch in Kostümen, weil’s so gut zur Kulisse passt? Die Opern-Diva in spe macht ihre Sache eh sehr niedlich – aber ist es das, worum’s bei Straßenmusik geht?

Den Graben runter, noch vor der Pestsäule, hört man dann plötzlich doch eine andere Stimme. Mit Herz, stark, gut. "Is des Demokratie? … Ihr hoits uns für blöd", singt sie. Ecke Tuchlauben steht dann die junge Frau zur Stimme: Tamara. Schön, stark, gut. Und so groß, wie es zur Stimme passt. Sie misst 1,90 m. Nicht nur deshalb ist sie eine außergewöhnliche Erscheinung. Tamara singt hauptsächlich deutsch, nein, eigentlich mundart, niederösterreichisch. "Great Song, what language is this you are singing?", sagt eine Amerikanerin im Gucci-Jäckchen zu ihr und wirft fünf Dollar in den Gitarrenkoffer. Tamara singt von Alltäglichem, Frustration, Glück, Einsamkeit – und von der Liebe natürlich. Timberland-Jungs mit Kaffee in Pappbechern schlendern vorbei, Männer in schmalen Kamelhaarmänteln. "Sehr schön", sagt ein älterer Herr, seine Gattin zieht ihn resolut weiter. "I cannot hide …", singt Tamara, jetzt doch auf Englisch, "… it feels like home." Ein paar Männer stehen da, lehnen an Hausecken, rauchen, hören zu. "With you, I’ll be coming home…" Was für eine Stimme. Es ist finster geworden. Aber die Stadt leuchtet. Wien ist anders, manchmal. Magisch.

Um 20 Uhr packt Tamara ihre Gitarre in den Koffer, länger darf sie nicht spielen. Die Männer klatschen. "Applaus ist selten auf der Straße. Umso mehr freut man sich darüber", sagt Tamara. Sie zählt ihr Geld. 60 Euro für zwei kalte Stunden. Kann man von Straßenmusik leben? "Die Frage ist, wievielst brauchst", sagt sie und lächelt. Dann geht sie, den Gitarrenkoffer in der Hand, den Graben entlang, der für zwei Stunden ihre Bühne war …

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Nachtrag: Bryan hat diesen Winter in Wien geheiratet. Eine junge Sängerin. Ihre Hochzeitsreise im Mai werden sie in Kroatien verbringen. Ohne Buchungen, als Straßenmusiker. Das haben sich beide so gewünscht. Es wär doch schön, wenn es Musiker aus Florida, Glasgow, Paris, Bologna und Istanbul zu diesem Zweck nach Wien ziehen würde. Oder?