Leben

Die Reportage: Trösten inklusive

Mareike sitzt in der Küche und trinkt Tee. Sie ist allein, genießt die Stille. "Das sind meine zehn Minuten. Ich würd jetzt lieber nicht reden", sagt sie entschuldigend. Geht klar. Es ist 13 Uhr, die Kindergartenpädagogin ist seit gut fünf Stunden im Einsatz. Ein Einsatz, der einem alles abverlangt. Ich weiß das, weil ich selbst seit 8 Uhr dabei bin: Kindergarten der "Kindercompany", Kreuzgasse 29, in der Gruppe ihrer Kollegin Marion. Und mir schwirrt der Kopf ganz ordentlich ...Was bisher geschah: Bis 9 Uhr können die Kinder frühstücken. Die größeren wie Lisa* – "Ich bin schon ein Vorschulkind. Und ich kann Deutsch, Englisch und Serbisch." – dürfen sich ihre Brote selber "streicheln". Die kleineren brauchen noch ein Rundumservice. Marion leitet die "Familiengruppe" des Kindergartens, sie betreut Kinder zwischen knapp zwei und sechs Jahren. "Ich glaub, die Carla hat Gacki gemacht", sagt Lisa, die das ist, was man eine Führungspersönlichkeit nennt. Auch die großen Jungs wie Marko und Michael akzeptieren ihre natürliche Autorität. Carla macht ein unglückliches Gesicht. "Schon in Ordnung", sagt Marion und wechselt ihre Windel. Alles wieder gut, so schmeckt das Marmeladebrot gleich viel besser. Marko hat offensichtlich einen größeren Bruder, mit dem er Filme schaut, die er besser nicht schauen sollte. "Du bist tot", sagt er und hält mir sein Plastikmesser an die Rippen. "Leg bitte das Messer weg, wenn du es nicht mehr zum Essen brauchst", sagt Marion.

Nach dem Frühstück gibt's den "Morgenkreis". Faiza, Marions englischsprachige Assistentin, versammelt die Gruppe. "Good morning", sagt sie. "Good morning", rufen die Kinder. Marion holt ihre Gitarre. "Manche brauchen länger, um ,anzukommen', manche sind gleich voll ,da' – jedes Kind hat einen eigenen Rhythmus. Den muss man akzeptieren", erklärt mir Marion. "Der Morgenkreis ist dann der Start in den Tag, alle helfen zusammen, wir singen Lieder und besprechen, was wir tun werden. Danach machen wir pädagogisches Programm, basteln, turnen, kochen – oder einen Ausflug." Die Kinder rücken inzwischen ihre Stühle zurecht, "are you helping, are you helping, girls and boys ..." singen sie dazu zur Melodie von "Bruder Jakob". Nach einigen Liedern zeigt Marion, was sie heute mitgebracht hat: bunte, mit Reis gefüllte Säckchen. Die Kinder sind begeistert. "Was könnten wir damit machen?", fragt Marion. "Ich weiß was!" – "Ich!" – "Iiiiiich" Jede Idee wird ausprobiert, die Säckchen werden auf dem Kopf, der Schulter, dem Oberschenkel und sogar auf dem Bauch balanciert. Spielerisch trainieren die Kinder so Koordination, Gleichgewicht, Muskulatur. "Könnt ihr das?", fragt Marion. Sie sitzt auf dem Boden, die Beine ausgestreckt, das Säckchen quer über ihre Fußknöchel. Jetzt hebt sie die Beine an. "Jaaa!", schreien die Kinder und machen es ihr nach. Schönen Gruß an die Bauchmuskeln – eigentlich sollt ich da mitmachen, denk ich mir.

Inzwischen ist John, der englischsprachige Assistent einer anderen Gruppe, mit einigen seiner Kinder zu uns gestoßen. "Wir machen öfter gruppenübergreifende Spiele. Das lockert die Atmosphäre", sagt Marion. Die Kinder lieben John. Vor zwölf Jahren kam er aus Nigeria nach Wien, seit acht Jahren arbeitet er im Kindergarten. "Der John ist un-glaub-lich stark", erklärt mir Lisa, "einmal hat er einen Sessel so hochgehoben, mit einem Arm." Die Fünfjährige streckt den Arm aus und macht ein verkniffenes Gesicht, um mir das Ausmaß des Kraftakts zu verdeutlichen. Außerdem kann John wirklich sehr gut trösten. Und dazu gibt's praktisch laufend Gelegenheit. "Der Luis hat mir ...!" – "Ich will aber...!" – "Ich mag nicht...!" – "Aber das ist mein Dino!" Gerade ist Geri gegen einen Stuhl gelaufen. Die Tränen springen dem Dreijährigen geradezu aus den Augen. John bückt sich, pflückt ihn vom Boden, man hat das Gefühl, er könnte in eine seiner Handflächen passen. Geri schluchzt eine Weile in seine Schulter. "Better?", fragt John. Geri nickt. "Let me see." Das Bub zeigt auf sein Knie. "Oh, there it is – terrible", sagt John und kneift die Augen zusammen als würde er es nicht wagen, die schreckliche Verletzung zu begutachten. "No John, it's okay", sagt Geri und springt von seinem Arm. "See!", sagt er und hüpft auf und ab. "Oh great, you're my boy", sagt John. Der Junge strahlt.

Weiter geht's mit "Peter und der Wolf", alle Kinder aus allen Gruppen zusammen. Elke, die zwar erst fünf ist, aber schon Geige spielen kann, zeigt vor, wie's geht. "Wen spielt denn die Geige?", fragt Kathrin, die Leiterin des Kindergartens. "Peeeeter!", die Wucht dieses 60-köpfigen Kinderchors haut mich beinahe um. "Und wen spielen die Hörner?" – "Den Woooolf!" – "Die Oboe?" – ... Hm. Dann, vereinzelt: "Ich!" – "Ich!" – "Ich!!" Wer war's also: "Die Ente!", wissen mindestens zehn der Racker. Die Kinder freuen sich. Nur Maria sitzt auf Johns Arm und weint, nein, sie hat sich nicht weh getan, sie ist einfach unglücklich. Vielleicht ja, weil einige andere Kinder die Namen lauter wissen als sie.

Überhaupt, Lautstärke: Es ist einfach unglaublich, wie viel Kraft diese kleinen Lungen in ihren kleinen Körpern haben. Eine kurze Unterhaltung zwischen den besten Freunden Sebastian und Karl: "Ich war im Museum!" – "Bei den DINOS?" – "JAAAA!" – "SUUUPER! ABER DA IST KEIN TYRANNOSAURUS!" – "DAFÜR EIN ALLOSAURUS UND DER IST NOCH VIEEEEL GEFÄHRLICHER!" – "ABER NICHT STÄRKER ALS EIN TRICERATOPS!!!" – "DER KANN ABER NICHT MIT DEM SCHWANZ SCHLAGEN WIE EIN ANKYLOSAURUS!!!" Die beiden stehen einander Nase an Nase gegenüber und plärren sich an, dass es ihnen die Haare föhnt – ganz ohne sich zu streiten. Es gilt die Formel: Wichtig = laut. Je wichtiger, desto lauter. Und in diesem Alter der Wunder ist eigentlich alles wichtig. "Natürlich machen sie Lärm – es sind Kinder!", sagt John zu mir und Maria auf seinem Arm lächelt. "Daran muss man sich gewöhnen, ich hab ja selber zwei. Und Kindergärtner zu werden, war die beste Entscheidung meines Lebens."

Es wird nicht nur geturnt und gesungen – Kinder brauchen Verschnaufpausen. Zum Beispiel mit ihren Lieblingsbüchern.

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Nach ihrer kurzen Zeit der Stille treffe ich Mareike auf dem Weg zurück zu ihrer Gruppe. Seit elf Jahren ist sie Kindergärtnerin, wie die meisten ihrer Kolleginnen ging sie auf die BAKIP, eine fünfjährige Schule, die mit Matura und einem Kindergartenpädagogen-Diplom abschließt. Man muss sich also sehr früh, praktisch mit 15, für diesen Weg entscheiden. Hat sie es je bereut? "Nein, für mich ist es der schönste Beruf, den ich mir vorstellen kann. Die Arbeit mit den Kindern macht Spaß, auch wenn sie anstrengend ist. Und am schönsten ist, wie man an ihrer Entwicklung teilnimmt – über die Jahre wachsen einem die Kinder so sehr ans Herz." Womit Mareike auch bei einem Punkt ist, der sie, trotz all ihrer Erfahrung, noch immer schmerzt. "Wenn sie dann in die Schule kommen. Sich verabschieden. Gar nicht wissen, dass es ein Abschied für immer ist. Da kullern bei mir schon manchmal die Tränen. Aber andererseits ist es natürlich schön, wenn man sieht, wie sie ihren Weg machen. Und ein bisschen dazu beigetragen hat."

Was noch geschehen wird: Vier Kinder werden sich un-glaub-lich verletzen, was aber nicht so schlimm ist, weil jemand da ist, der ihre Tränen trocknet und sie danach selbst nicht mehr genau wissen, was ihnen eigentlich weh getan hat. Zwei werden den Assistenten zum ersten Mal auf Englisch antworten und un-glaub-lich stolz sein. Einige werden weinen, weil ihnen etwas nicht gelingt, was sie unbedingt können wollen. Viele Kinder werden unbändig lachen, weil sie ganz einfach Spaß haben. Es wird getanzt, gemalt und gebastelt werden. Nach und nach werden die Kinder von ihren Eltern, die sich kaum vorstellen können, was die alles erlebt und geleistet haben, abgeholt werden. Meine Hochachtung vor den Pädagoginnen und ihren Assistenten wird ins Unermessliche wachsen.

* Kindernamen wurden von der Redaktion geändert.