Kino mit Seele
Von Andreas Bovelino
Mit großer Gelassenheit setzt Gustav seinen Kaffeebecher auf dem runden Tischchen ab. „,Ich bin Sebastian Ott’ – kennst du den Film“, fragt er seinen Freund Max, der neben ihm sitzt. „Freilich, 1939, mit’m Willi Forst. Der is guat“, antwortet der. Seine Augen funkeln. „Hm, komisch. Ich hab immer glaubt, ich kenn sie alle. Aber der …“, Gustav schüttelt den Kopf.
Der Film beginnt um 15.45 Uhr, aber Max und Gustav kommen gern ein wenig früher, plaudern über den Streifen vom Vortag. „Wir kommen jeden Tag, natürlich!“, sagen sie. „Schön warm is’ auch da. Wissen S’, ich frier so leicht“, sagt Gustav. Er wird bald 80, Max ist 82. Seit ihrer Jugend sind sie Kinofans – „Flotten-Kino, Wallenstein, Staffa – manchmal glei drei Filme am Tag!“ Die Alternative Fernsehen kostet die beiden nur ein müdes Lächeln. „In dem klan Kastl?“ – „Und dann die ganze Zeit Werbung.“ – „Und Filme spieln s’ ja eh kaum mehr, nur diese Shows …“ Wobei sie keinesfalls ausschließlich der Nostalgie frönen. „Gestern war ich in dem neuen Film vom Stallone und dem Schwarzenegger“, erzählt Max, „wie heißt der gleich …“ Escape Plan? „Ja echt? Kann sein. Jedenfalls: Sehr guat g’macht, sehr spannend.“ Gustav verdreht die Augen. „Du und deine Action-Filme“, sagt er. Mittlerweile ist das Kinofoyer schon ganz gut gefüllt. „Ah schau, die Frau Doktor is a scho da“, sagt Max. „Wo?“ – „Na hinten, is schon auf ihrem Platz.“ Gustav nickt, die Frau Doktor – „keine medizinische, irgendwas mit Sprachen“ – hat immer den gleichen Platz. Sitzt einer der anderen Stammgäste drauf, aus Versehen oder weil er nicht mehr mit ihrem Kommen rechnet, räumt er ihn sofort, wenn sie sich nähert. Uneingeweihte werden dezent darauf hingewiesen …
„Na, dann wird’s bald losgehn“, sagt Gustav. Es ist ein buntes und erstaunlich vitales Völkchen in diesem kleinen Reich aus rotem Kunststoff-Lambris, Stuckdecken und Blumentapeten. Frau Renate vermisst „die anderen Damen“, fügt sich aber mit Grandezza in ihr Schicksal, Herr Rudi freut sich schon narrisch auf den Film, vor allem auf die Kampfszene zwischen Willi Forst und – Willi Forst. „Natürlich ein Double, der zweite“, erklärt er mir wie zur Beruhigung. Und Reinhold Franz Stefan – „Ich verwende alle drei Vornamen, bitte!“ – hofft, dass bald wieder ein Film mit Oskar Werner gezeigt wird. „Einer der größten“, sagt er, und: „Stefan bitte mit ,f’ – weil mit ,ph’, das war der Gatte von der Maria Theresia, der Lothringer. Der war übrigens Kaiser, nicht sie!“ – „Bittesehr, es geht los“, unterbricht Frau Herta, die gute Seele des Bellaria Kinos, Reinhold Franz Stefans kleine historische Abhandlung. Die Herren und Damen wandern langsam Richtung Eingang, wo die Dunkelheit sie schluckt und ein Spannteppich ihre Schritte dämpft. Aber nicht, ohne vorher noch ihre Plastikbecher in den Abfalleimer neben der Kaffeemaschine zu werfen. Mit einem melancholischen Lächeln schaut Frau Herta ihnen nach. „Wissen S’, früher war das Buffet hier verpachtet“, sagt sie. „Die Dame hatte ihre eigene, große Kaffeemaschin’, so eine rote, sehr schön, und hat jeden Tag frische Kuchen g’macht. Damals haben wir auch noch oft das ,Ausverkauft’-Schild draußen über die Film-Reklame stecken müssen.“
Damals ist auch für Bellaria-Verhältnisse schon ziemlich lange her, „so in den 90ern muss das g’wesen sein. Oder noch früher? Ich könnt’s wirklich nimmer sagen“. Herta ist seit mehr als 30 Jahren im Familienbetrieb der Kinobesitzer, früher ist sie zwischen Erika-, Admiral- und Bellaria-Kino hin- und hergependelt, jetzt ist nur mehr das Bellaria übrig. Und Frau Herta ist allein. Sie ist Kassierin, Buffet-Kraft, Putzfrau, Billeteurin und Filmvorführerin in einem. „Na ja, Filmvorführerin“, sie lächelt verlegen, „des war früher ja was. Da hast richtig g’merkt, ob’s ein echter war, einer, der’s g’lernt hat, oder eine Aushilfe. Heut’ ist ja alles digitalisiert, ich brauch eigentlich nur auf ,Start’ drücken.“ Sie zeigt mir ihre computerisierte Schaltzentrale, die im Kassahäuschen untergebracht ist. So wie der kleine Getränkekühlschrank, die Snacks und typischen Kino- naschereien – Sportgummi!!! – in den kleinen Kartons neben ihren Kassarollen. „So, und jetzt muss ich.“ Der Film läuft – höchste Zeit, um die Krümel von den Tischen zu fegen und die WCs zu putzen. „Die Männer pritscheln ja immer so, da musst’ praktisch nach jedem Einlass wischen“, sagt sie. Dann sucht Frau Herta ganz hinten, im Archiv mit den braunen Kuverts für die 2016 Filme des Hauses, nach der „Reklame“ für die Vorführung des nächsten Tages: „Tanze mit mir in den Morgen!“ Sie strahlt. „Des wird schön, ich mag die alten Musikfilme ganz besonders.“
Kassa, Buffet, Filmvorführung – Frau Herta in ihrer Kommandozentrale
War’s ein guter Nachmittag heute? „Na ja, es geht. So 25 Besucher. Normal sind schon mehr Leut. Aber es mag ja niemand rausgehen, bei dem Wetter.“ Hertas kleine Mischlingshündin Chica auch nicht. In der offenen Tür sitzend, sieht sie zu, wie ihr Frauli die Plakate im Schaukasten austauscht. „Ich kann sie ja nicht allein lassen, den ganzen Tag“, sagt Frau Herta entschuldigend, „um halb drei fang ich hier an, und oft komm ich erst um elf, halb zwölf in der Nacht wieder raus.“ Und am Wochenende geht’s immer schon zu Mittag los. Kein familienfreundlicher Job. Jetzt ist es einfacher, die Tochter studiert Kunstgeschichte, war ein Jahr in Madrid, geht vielleicht bald nach Korea, der Sohn ist mit Maschinenbau längst fertig. „Aber früher war’s schon schwierig – da hab ich halt die Kinder oft dabei g’habt, bei der Arbeit.“Der erste Film ist zu Ende, fröhliche, bekannte Gesichter kommen auf uns zu. „Wiedersehn Herr Max“, sagt Frau Herta und „bis morgen, Herr Gustav.“ Seite an Seite mit Reinhold Franz Stefan geht Herr Rudi, in Fachgespräche vertieft. „Perfekt gemacht.“ – „Aber die Rauferei war übertrieben.“ – „Finden S’? Die war doch dynamisch.“ – „Ja, aber übertrieben.“ – „Und die Doppelrolle vom Willi Forst! So gut, dass man nichts merkt, wenn sie gemeinsam zu sehen sind. Aber: Sie können sich nie berühren. Daran merkt man’s.“ – „Und bei der Rauferei?“ – „Aber des war doch ein Double!“, sagt Herr Rudi und winkt der Kassierin zum Abschied zu. Untergehakt und weiterdiskutierend verschwinden die beiden Männer im frühwinterlichen Dunkel der Stadt. Scheinbar unberührt vom kalten Nieselregen. Mit acht Jahren hat Herr Rudi sich zum ersten Mal ins Kino geschwindelt, um den „Sebastian Ott“ mit Willi Forst zu sehen. Und wahrscheinlich hat er auch damals, 1939, mit einem Freund über den Film diskutiert. Ab 17.30 Uhr ist das Bellaria dann ein echtes kleines Programmkino, „An ihrer Stelle“, „Frances Ha“ und „Paulette“ stehen heute noch auf dem Programm. Aber zuerst muss der Saal wieder auf Vordermann gebracht werden. „Viel is da um die Zeit eh nie – die Nachmittagsgäst’ essen ja nix mehr, was bröselt“, sagt Herta augenzwinkernd. Moderne Autorenfilme im Bellaria – ist das nicht ein Stilbruch? „Na ja, die Zeit macht vor niemand’ halt“, sagt Herta, „vor uns net, und leider auch nicht vor unseren Gästen.“ Und irgendwie muss man schließlich auch neues Publikum für die alten Filme gewinnen. Bevor die neuen Filme alt werden und wir uns hier in 20 Jahren „The Counselor“ oder „Rush“ anschauen. Und hin und wieder kommen Studenten von den Spätvorstellungen dann auch zum Oldie-Nachmittag. Heute nicht. Heute soll es ganz anders werden.
Seit einigen Jahren ist der Raum des Filmvorführers verwaist. Die Geräte scheinen noch auf ihn zu warten ...
Als die Eingangstür schon verschlossen ist, kommt noch ein Pärchen und die Kassierin sprintet die Treppen hoch. „Na bitte, kummen S’ nur, lauft erst eine Viertelstund – viel haben S’ noch net versäumt.“ Dann putzt Frau Herta zum letzten Mal die Klos, leert die Abfalleimer, füllt den Kaffeeautomaten, macht die Abrechnung. „Morgen wird’s wieder besser – des weiß ich“, sagt sie.Nach dem Ende der letzten Vorstellung wischt Herta den Linoleum-Boden des Eingangsbereichs, während ihr von den vergilbten Blumentapeten aus Paula Wessely, Hans Holt, Marte Harell, Paul Hörbiger, Kristina Söderbaum, Viktor Stahl, Marika Rökk, Magda Schneider, Hans Moser, Heinz Rühmann und Hertha Feiler in Überlebensgröße zulächeln. Augenblicke aus einer längst vergangenen Zeit, gefrorene Gefühle von mädchenhaft bis eiskalt, staatsmännisch und heroisch bis wehleidig, schmachtend bis unwiderstehlich natürlich. Aus dem Radio klingt „Mandolinen und Mondschein … Signorina, dass du mich erhörst …“ Morgen wird Frau Herta das Bellaria wieder aufsperren. Zum Glück.