Die Reportage: "Gemma, in die Vollen!"
Von Andreas Bovelino
Kackstuhl.“ – „'tschuldigung, wie war das?“ – „Na ja, ein Kackstuhl halt. Wennst ihn siehst, weißt auch, warum der so heißt“, sagt Sascha und grinst. Ich bin verwirrt, notiere das Wort aber unter „Kegelfachbegriff“.
Wir sitzen im altehrwürdigen Café Weidinger am Lerchenfelder Gürtel. Ich bin schon den ganzen Nachmittag da, und was Kegeln anbelangt, hab ich doch schon einiges gelernt. Dass ein „Kranzl“ unter bestimmten Umständen mehr zählt als „alle Neune“ zum Beispiel. Dass es bei diesem so harmlos wirkenden Sport, wenn auch selten, tatsächlich einen „Königsmord gibt. Dass man mit mehr als 80 Jahren noch jede Menge Spaß daran haben kann und dass man nicht unbedingt immer „in die Vollen“ gehen oder nur „abräumen“ muss, sondern es praktisch Hunderte Spielarten gibt. „Mensch ärgere dich nicht“ etwa, sehr witzig, vor allem, weil es die tief in uns schlummernden, normalerweise gut versteckten Charakterzüge, die uns so genüsslich zum Bösen drängen, zum Vorschein holt. „Jetzt muass' überlegen, ob's glei aufn Sieg geht, oder ob's liaba vorher mi außeschmeißt, die Susi“, hat Rudi, der mit seinen Freunden vom Pensionisten-Bund jeden zweiten Freitag hier ist, mir am Nachmittag gesagt.
Zur Erklärung: Rudi braucht noch einen umgeschossenen Kegel für den Sieg, Susi braucht zwei. Trifft sie nur einen, hat sie gleich viele Punkte wie Rudi. Und der muss dann wieder bei null anfangen. Die rüstige 70erin läuft an, zielt weit nach rechts außen – und die Kegelkugel streichelt den „rechten Bauer“ gerade noch stark genug, dass der zögernd umfällt. Und nur der. „'tschuidige Rudi“, sagt Susi und strahlt übers ganze Gesicht, „i bin echt auf die zwa gangen – aber er is ma a bissl abgrissn.“ – „Na wart nur, des kriagst zruck“, sagt der 85-jährige Rudi. Vielleicht ja nächsten Freitag. Dieses Mal ist Susi der Sieg nicht zu nehmen, souverän schiebt sie in der nächsten Runde wieder einen „Einser“ und gewinnt die Partie.
„Wollen S' net a amoi probieren?“, sagen Susi, Rudi, Friedl, Erika und wie sie alle heißen zum Abschluss zu mir. „Ma kann doch über nix schreiben, was ma net selber probiert hat!“ Was so nicht stimmt, letztens auf der Erotikmesse – also da gab's schon einiges, was ich wohl nimmer probieren werde ... Aber gut, dann nehm ich halt zum ersten Mal seit ich 15 war eine Kegelkugel in die Hand. Die Damen und Herren des Ottakringer Seniorenbundes korrigieren fachkundig meine Haltung. „A bissl mehr in die Knie gehn, junger Mann.“ Die meisten von ihnen kegeln seit ihrer Jugend. Immer schon hier? „Na, wie's do in die 60er die Bahn aufgmacht ham, da war die ja ganz modern, Asphaltbahn und alles automatisch – des war uns z'teuer damals“, sagt Friedl. „Wir warn im Café Goldegg. Mit Sandbahn und Kegelbuam. Oba des gibt's heit scho lang nimma. Und do is a schön. A echts oids Café hoit, mit an Kellner, der uns wos bringt – afoch gmiatlich. So a Bowlingcenter warad nix für uns.“ Und: „Oiso, gemma?“ Ich lauf an, die Kugel ist schwerer als ich sie in Erinnerung hatte, geh dann wie befohlen tief in die Knie, die Kugel rutscht mir ein wenig über den Daumen, dotzt unelegant auf, trudelt viel zu weit nach rechts – und rasiert dann doch den äußersten Kegel, der nach einigem Zögern zu Boden geht. „Bravo – des is a Kunst, des muass ma erst amoi kennan“, sagt Susi zwinkernd, „gö, Rudi?“ – „Jo eh“, sagt Rudi, und zu mir, als guten Rat für meinen künftigen Weg: „Brav sein, nix rauchen – und immer folgen, wenn a Frau was sagt.“
Die munteren Pensionisten haben sich verabschiedet, die Kegelbahn im alten Kellergewölbe warten gelassen auf die nächsten Gäste. Seit einigen Jahren ist sie wieder sehr begehrt, fast immer ausgebucht. Ohne Reservierung ist sie nicht zu haben. Die nächste Partie hat für 19 Uhr gebucht. Und ich sitze mit Sascha und seinem Freund Wolfi im nikotinpatinierten, gemütlichen Gastzimmer des Weidinger. Die beiden schieben Schnapskarten über den grünen Filz ihres Tisches. „Klar kegeln wir auch. Aber das ist was, das a bissl an Anlass braucht. A größere Gruppe, dann macht's Spaß“, sagt Sascha. „A wirklich größere Gruppe“, das hatten er und seine Freunde vor einigen Wochen hier. Musiker-Kegeln mit Sir Tralala live an Klampfe und Mikro. Mehr als 100 Fans und kegelnde Musiker unten im Keller. „Wir ham die Verstärker am Kellner vorbeigschmuggelt“, erinnert sich Sascha grinsend. Der Herr Ober Dieter war dann zwar überrascht, aber zufrieden. Keine Beschwerden wegen der Lautstärke – und der Umsatz hat mehr als gepasst. „Wir dürfen des wieder machen.
Wahrscheinlich im Herbst – i geb dir Bescheid. Wird a Spaß“, sagt Sascha. Er ist selber Musiker, Bassist bei der famosen Band Captain Knife. „Es san überhaupt viele Musiker da, weil's einfach klass ist und echt, des Weidinger. Und, fallt dir was auf?“ Stille. Nur das gedämpfte Murmeln der Gäste auf ihren Polsterbänken und das leise Klirren von Gläsern und Kaffeelöffeln. „Genau“, sagt der Musiker: „Es gibt ka Musik, ka Dauerberieselung – des is wirklich sehr viel Wert.“
Eine Tatsache, die auch dem schönen Paul sehr wichtig ist. Er kommt seit Jahrzehnten her, zum Tarockieren, Zensern, Jollyspielen. „Und i kenn welche, die Haus und Hof vaspült ham. Oba des is lang her.“ Damals, als die „Buam“ vom berüchtigten „5er-Haus“ mit ihren Damen noch hin und wieder vorbeischauten ... Paul, der sich richtig freut, dass so viele Junge in sein altes Stamm-Café gehen und Kartenspielen, erzählt uns gerade die Gschicht, wie er vor Kurzem einen Strafzettel erhielt, weil er ein Herzinfarktopfer erstversorgte und die Rettung rief, dabei aber in der Aufregung mit einem Rad auf dem Gehsteig parkte, was zur Folge hatte, dass die Polizei ihn als Parksünder abmahnte, während er gleichzeitig eine Belobigung der Stadt ausgesprochen bekam, die erst auf seinen Einspruch hin dann doch auch die fällige Gebühr beinhaltete – als die zweite Kegelrunde des Tages eintrudelt. Friederike, Petra, Georg, Markus & Co, eine lockere Gruppe Gewerbetreibender und Kleinunternehmer, vom Installateur über die Mentaltrainerin bis zum Architekten, die immer wieder mal gemeinsam etwas unternehmen. „Bogenschießen, Segeln, Kart fahren, Tanzen – wir unternehmen halt gern was“, erzählt Ernstl, der Elektriker.
Die Damen und Herren bringen Schwung ins Kellergewölbe der Kegelbahn, Ober Dieter flitzt mit Kren-Frankfurtern, Debrezinern, Gulasch- und Hühnersuppen hin und her. Und mit diversen Erfrischungsgetränken natürlich. „Herr Ober, 'tschuldigung, mei Spritzer is leider scho verdunst'“, heißt es, bevor der erste Kegel gefallen ist. Nach einer kurzen Besprechung mit Herrn Weidinger jr. höchstpersönlich entschließt man sich dazu, mit zwei Teams ganz einfach „in die Vollen“ zu gehen. Für die meisten Mitglieder der Gruppe liegt das letzte Kegelabenteuer ungefähr so weit zurück wie für mich, da bleibt für die Feinheiten des Spiels kein Platz – Spaß macht es trotzdem. Petras erste Kugel „wandelt“ ordentlich, um dann unauffällig im Abgrund am Ende der Bahn zu verschwinden. „Vielleicht gemma dann rauf auf a Partie Carambol, da kannst mit 100 Banden spielen“, sagt Markus zwinkernd. „Hm, aber andererseits schonen wir so die Kegel“, meint Ernstl, als auch seine Kugel verschwindet, ohne auch nur ein Ziel zu berühren. Die Partie nimmt dann doch Fahrt auf – und sie soll nicht die letzte gewesen sein. Bis ein Uhr früh wird „gescheibt“, „Schuster“, „Anker“, „Häuschen“ und wie sie alle heißen, die schönen Kegelbilder, werden erzielt, ausgiebig beklatscht und kommentiert, während der Herr Ober Dieter dafür sorgt, dass keiner der tapferen Sportler verdurstet. Ein durch und durch fröhlicher Abend. „Der Druck ist unerträglich – i waß des, i bin Statiker“, sagt Markus lachend, bevor er zum letzten, alles entscheidenden Wurf antritt, und seine löcherlose Kugel schließlich unbeirrbar über den glatten Asphalt ihrem Ziel entgegenrollt...
Und ich weiß jetzt auch endlich, was ein „Kackstuhl“ ist. Ehrlich, ich hab ihn selbst gesehen.