Leben

Die magischen 11 WM-Partien

Ja, 11 ist eine magische Fußballzahl – vom Penalty, der übrigens ein „Zwölfer“ ist, ein 12-Yarder nämlich (also nur ein 10,9728-Meter statt eines Elf-Meters) bis zur jeweiligen Teamstärke. „Elf Freunde müsst ihr sein“, beschwor der legendäre deutsche Bundestrainer Sepp Herberger (1897–1977) seine Mannen, ehe sie 1954 Weltmeister wurden. Was hat Österreich in dieser gloriosen Reminiszenz verloren? Viele Spiele. Aber nicht alle. Jedenfalls gegen Deutschland ein einziges, leider unwesentliches, Spiel nicht. Wenn es stimmt, was Helmut Qualtinger selig über unsere Kicker sagte – „A Unentschieden is a Sieg!“ –, dann gilt wohl auch: „A Sieg gegen die Piefke is wie a Wödmastatitel!“ Die tiefenpsychologische Belastung des Kräftemessens „mit dem großen Bruder“ ist längst bis in alle seelischen Nebenräume ausgeleuchtet. Das Musterbeispiel für die dem Österreicher gern nach-gesagte „uneigennützige Schadenfreude“ ist das 3:2 bei der WM 1978. Das Zauberwort „Córdoba“ steht für „Unsterblichkeit ohne zu überleben“, egal, wie lang sich der Mythos, Gewaltiges erreicht zu haben, schon hält. Dem Team rund um Koncilia, Pezzey, Prohaska und Krankl gelang ein Achtungserfolg (der rein rechnerische Platz 7), der aber den Deutschen, hehe!, die Finalteilnahme vermasselte.

Die waren an diesem Tag eher elf Feinde. Hansi Müller etwa, später, als Legionär, ein Held in Innsbruck, wurde von seinen „Kameraden“ gemobbt und gesnobbt: „Lauf doch mal, Dicker!“ Die beiden österreichischen Sieger des ersten Triumphs über Deutschland seit 47 Jahren hießen Hans & Edi. Der eine, Hans Krankl, empfahl sich mit zwei zauberhaften Toren für höhere Aufgaben beim FC Barcelona, der andere, Ingenieur Edi Finger, kollabierte fast oscarreif als Radio-Live-Berichterstatter im Rang eines Volksschauspielers: „Sara-Burli streichelt das Balli! – Tor, Toor, Toooor, i wer’ narrisch! – Wir busseln uns ab! – Warten S’ no a bisserl, dann könn’ ma uns vielleicht a Vierterl genehmigen!“ Der Nach-Ruhm beider Heroen dieses Tages schwankt zwischen „Hirn im Außenrist“ (beim erklärten Egozentriker Krankl) und „Herz auf der Zunge“ (beim letzten Spontan-Poeten des Mikro-Kosmos, Finger). Die Wahrheit liegt dazwischen: Krankl ist ein sehr profunder Auskenner weit übers Kicken hinaus (Musik, Mode, Film) und Finger war dafür nicht immer so lustig wie damals. Manchmal geizte er mit Faktentreue. Doch: Heute gibt es zu Ehren der, auch wegen seiner lebenslangen und liebenswerten Sparsamkeit, unvergessenen Reporter-Legende eine Edi Finger-Straße in Wien-Floridsdorf. Sein Sohn und Nacheiferer am Mikrofon, Edi Finger jun. (heute 64), schmunzelt: „Wenn der Papa das noch erlebt hätte, dann wär’s mit Sicherheit eine Mautstraße geworden.“

21. Juni 1978, Córdoba, WM in Argentinien – Radio-Legende Ing. Edi Finger ( 1989) schildert die 66. Minute von ÖsterreichDeutschland (großes Bild): „Schöne Möglichkeit, Krankl, Schuss, Tor, Toor, Tooooor! 2:1! Ich kann nicht mehr,da fehlen mir die Worte, da müsst’ ich ein Dichter sein!“ Später wurde er zwar nicht Dichter, aber (beim 3:2, wieder durch Krankl) auch noch unsterblich „narrisch“.

Wie Córdoba und Lausanne erfüllt auch Gijón, eine asturische Hafenstadt im Norden Spaniens, das Anforderungsprofil für „Magie“ mit österreichischer Beteiligung – besser gesagt: den Tatbestand. Denn: Von „Beteiligung“ konnte im letzten Vorrundenspiel nach zehn Minuten keine Rede mehr sein. Weder von österreichischer noch von deutscher Seite. Hrubesch hatte auf 1:0 gestellt – dann wurden die „Kampfhandlungen“ eingestellt. Dieser „Nichtangriffspakt“ gilt als eines der peinlichsten Kapitel der Fußballgeschichte. Der knappste aller Siege reichte Deutschland zum Weiterkommen, ebenso wie Österreich die knappste aller Niederlagen. ORF-Kommentator Seeger riet während der folgenden 80 Minuten provokant-lähmenden Hin- und Hergeschiebes im Mittelfeld mehrfach zum Abschalten. Die drei Opfer der angeblich „unabgesprochenen“ Farce: 1. Der Sport, 2. Algerien (das Deutschland zuvor besiegt hatte und mit einem österreichischen Tor aufgestiegen wäre) und 3. Schachner, der pfeilschnelle Stürmer, der offenbar damit nichts zu tun haben wollte (oder uneingeweiht war). Er rannte mehrfach los, bis ihn sein Gegner Briegel, ein Ex-Zehnkämpfer, drohte: „Das nächste Mal wird’s dir weh tun, Junge!“ Der Weltverband änderte wegen der „Schande von Gijón“ das Reglement: Entscheidende WM-Spiele finden seit 1982 stets zur selben Zeit statt..

Welch gütige Gnade: England, Erfinder des Fußballs, beteiligt sich erstmals an einer WM und will sich 1950 in Brasilien den „Coup Jules Rimet“ en passant abholen. But, what a shame – gegen eine bunte US-Söldnertruppe aus sechs Nationen ist schon in der Vorrunde Endstation. Das 0:1, das der dunkelhäutige Haitianer Joseph Gaetjens (seit 1964 verschollen) nach durchzechter Nacht fixiert, melden Londoner Agenturen zuerst als 10:1 für England, weil’s niemand glaubt ...

Kaum zu glauben, aber: Auch Österreich hält einen WM-Rekord. Beim Viertelfinal-Drama 1954 gegen Gastgeber Schweiz kam es zur „Hitzeschlacht von Lausanne“. Vienna-Tormann Kurt Schmied ( 2007) erlitt bei 40 Grad im Schatten kurz nach Anpfiff einen Sonnenstich und taumelte hilflos umher. Nach 23 Minuten stand es 0:3. Österreichs Masseur Pepi Ulrich labte und dirigierte ihn: „Pass auf, Kurtl, hohe Flanke von links, Schuss von halbrechts!“ Wie in Trance hielt Schmied dem Dauerfeuer stand. Binnen neun (!) Minuten hieß es 5:3 für die Elf rund um Happel, Hanappi & Probst. Am Ende gar 7:5! Das mit 12 Goals „glorreichste torreichste“ WM-Spiel aller Zeiten. Nur der Kurtl konnte sich nie dran erinnern.

Er war Afrikas erster Superstar: Eusébio da Silva Ferreira (heute 71) – aus Mosambik. Als er 18 war, holte ihn Benfica-Lissabon nach Portugal und versteckte ihn vorm Lokalrivalen Sporting in einem kleinen Dorf an der Algarve. Dann erzielte der „schwarze Panther“ in 313 Ligaspielen unglaubliche 320 Treffer für den Rekordmeister. Eusébios Großtat im Nationalteam: Neun Tore bei der WM 1966, vier allein binnen einer halben Stunde im Viertelfinale gegen Nordkorea! Der Favorit lag nach 24 Minuten 0:3 zurück, als der „große Zampanò“ (frei nach Fellinis Filmfigur in „La Strada“, 1954) zornig wurde und die Asiaten, die zuvor Italien rausgekickt hatten, im Alleingang „erlegte“. Nur das 5:3 überließ er Augusto ...

Wohl keine Szene der Fußballgeschichte wurde so oft und so genau, ja geradezu wissenschaftlich akribisch, analysiert und studiert wie diese. Das Ergebnis lautet heute, weiß Gott wasserdicht: Nein, Das „Wembley-Tor“ war keines, was freilich nichts am Resultat ändert. England schlug Deutschland – am 30. Juli 1966 in der Londoner „Kathedrale des Kickens“ – mit 4:2 und wurde damit erstmals Weltmeister. Das ominöse (Nicht-)Tor fiel in der 101. Minute, bei 2:2, in der ersten Hälfte der Verlängerung. West Ham-Striker Geoff Hurst, heute 72 und „Sir in Ruhe“, knallte damals die Kugel aus kurzer Distanz mit enormer Wucht an die Unterseite der Querlatte. Von dort beschrieb der Ball – siehe Bildfolge oben – kerzengrade senkrecht auf die Torlinie und danach zurück ins Feld. Der deutsche Verteidiger Weber köpfelte ihn daraufhin aus der Gefahrenzone in den Corner. Schiedsrichter Gottfried Dienst, ein Postler aus Basel, konsultierte Linienrichter Tofik Bachramow, einen Beamten aus Baku. Er beherrschte kein Russisch – der Aserbaidschaner nur Russisch (neben ihren Muttersprachen). Bachramow gab das 3:2, weil er, laut Memoiren, sicher war, der Ball wäre vom „oberen Innennetz“ abgeprallt, worin er sich „durch den riesigen Jubel der englischen Fans“ bestärkt fühlte. Beim finalen 4:2 feierten bereits Dutzende Zuschauer mitten auf dem Platz – irregulär! Absurd, was Bundespräsident Lübke den geknickten Verlierern nach ihrer Rückkehr eröffnete: „Meine Herren, ich sah es genau, es war ein klares Tor!“ Ein Tor war nur er.

Deutschland hat nur gegen acht Nationen eine Negativbilanz (etwa gegen Italien, Brasilien oder Frankreich). Aber gegen ein einziges Land kann die DFB-Auswahl diese Scharte nie wieder auswetzen: Gegen die DDR. Das 0:1 bei der WM 1974 blieb ein singuläres Bruderduell und die Wunde, im Kampf der „Systeme“ unterlegen zu sein, saß tief. Dabei gewann das (Bayern-) Dreamteam mit Maier, Breitner, Beckenbauer, Hoeneß und Müller aus der Schlappe erst die Zauberkraft, den Titel im eigenen Land zu holen! Durch die konspirative Umstellung der Mannschaft (ohne Wissen der Chefs) formte sich die Weltmeister-Truppe „über Nacht“ selber. Der ostdeutsche Goldtorschütze Jürgen Sparwasser wurde daheim als Held des Sozialismus gefeiert, nach seiner „Republikflucht“ 1988 als „Agent des Kapitals“ verdammt. Versöhnlich: Sein damaliges Trikot (Nr. 14) hängt heute im „Haus der Geschichte“ in Bonn ...

Okay: Perus Tormann, Ramón Quiroga, hatte fraglos „keinen guten Tag“. Vielleicht riet ihm die „Stimme des Blutes“, gleich sechs Mal danebenzugreifen: Er war gebürtiger Argentinier. Bei ihrer Heim-WM 1978 benötigte das Team des Kettenrauchers, aber glühenden Feindes der Militärdiktatur, Menotti, einen Kantersieg, um ins Finale vorzustoßen. Nun, diese Partie gilt heute fix als verraten und verkauft. Drei Peruaner sollen 20.000 $ erhalten haben, von Buenos Aires nach Lima seien großzügigste Getreidelieferungen gerollt – freilich: Die FIFA nahm die Farce nie aufs Korn.

Wie erklärt man Fußball? Wohl am besten mit dem WM-Finale 1978: Augenblicke vor Ablauf der 90. Minute steht’s 1:1 zwischen (Gastgeber) Argentinien und den Niederlanden. Da eröffnet sich – jählings – Rensenbrink, aus nächster Nähe, das leere Tor. Aber er trifft nur die Stange, nicht ins Netz. Um ein paar Millimeter. In der Verlängerung triumphieren Kempes & Co mit 3:1 und Ernst Happel ( 1992), Wiener Teamchef der Oranjes, fällt um die offizielle Bestätigung seines Ehrentitels „Wödmasta“ um. Genau so erklärt man Fußball – ohne ihn nur ansatzweise zu begreifen.

Sein Name klingt seit jeher wie ein tiefreligiöser Stoßseufzer – Maradona! Argentiniens Wunderknabe (heute 53), anfangs wegen seiner Locken „Pelusa“ (Fussel) genannt, leistete sich häufig Haarsträubendes, stets als Grenzgänger zwischen Genie und Genieren. Parade-Beispiel: Das WM-Viertelfinale gegen England bei der WM 1986 in Mexiko. Erst bugiserte er im Stil eines lausbübischen Trickbetrügers den Ball per Hand ins Tor Shiltons, dann überdribbelte er auf 50 Metern fünf hilflose Gegner: Was für ein unsterbliches Tor – Maradona, Gottseibeiuns!

Heute wissen wir, was Zidane 2006 auf die Palme und Frankreich um den WM-Pokal brachte (siehe unten) – eine plumpe Provokation, buchstäblich unter der Gürtellinie. „Zizou“, wie der algerischstämmige Zauberer aus Marseille (heute 41) gerufen wurde, betrog sich mit seinem Kopfstoß um den zweiten WM-Titel (nach 1998). Der Effekt des Affekts – Rote Karte in der 110. Minute – war ein verlorener Elfer-Thriller im Berliner Finale gegen Italien. Zidane leistete reuig drei Tage Sozialdienst für Kinder.

Jüngster Spieler: Norman Whiteside (Nordirland) mit 17 Jahren bei der WM 1982.

Ältester Spieler: Roger Milla (Kamerun) mit 42 Jahren bei der WM 1994.

Jüngster Trainer: Juan José Tramutola (Argentinien) mit 27 Jahren bei der WM 1930.

Ältester Trainer: Der Deutsche Otto Rehhagel (Griechenland) mit 71 bei der WM 2010.

Top-Torschütze: Ronaldo (Brasilien) mit 15 WM-Treffern (1994, 1998, 2002, 2006).

Top-Torfabrik: Ungarns „goldene Elf“ (mit Koscis, Hidegkuti und Puskas), Weltmeister 1954 in der Schweiz: 27 Tore in 5 Spielen = 5,4 pro Spiel.

J wie Jairzinho (Filho Jair Ventura), Weltmeister1970, 81 Spiele, 33 Tore.

K wie Kaká (Ricardo Izecson dos Santos Leite), Weltmeister 2002, 87 Spiele, 29 Tore.

L wie Leônidas (José da Silva, genannt „der schwarze Diamant, 2004) Schützenkönig der WM 1938, 25 Spiele, 24 Tore.

N wie Neymar (Silva Santos Júnior), Barcelonas Perle, 46 Spiele, 27 Tore.P wie pelÉ (Edson Arrantes do Nascimento), Weltmeister 1958, 1962, 1970. 92 Spiele, 77 Tore.

R wie Rivaldo (Vítor de Ferreira), Weltmeister 2002, Weltfußballer 1999, Meister in vier Ländern, 74 Spiele, 34 Tore.

R wie Romário (de Souza Faria), Weltmeister und Weltfußballer 1994, 71 Spiele, 55 Tore. Heute Politiker.

R wie Ronaldinho (Assis Moreira), Weltmeister 2002, Weltfußballer 2004 und 2005, 102 Spiele, 33 Tore.

R wie Ronaldo (Luís Nazário de Lima), Weltmeister 1994 und 2002, Weltfußballer 1996, 1997 und 2002, 98 Spiele, 62 Tore.

S wie Sócrates (Sampaio de Souza Vieira de Oliveira, 2011), starb mit 57 am Alkohol, 60 Spiele, 22 Tore.

T wie Tostao (Eduardo Gonçalves de Andrade), Weltmeister 1970, 54 Spiele, 32 Tore.

V wie Vavá (Edvaldo Izídio Neto, 2002), Weltmeister 1958 und 1962, wie Pelé, Breitner und Zidane scorte er als Erster in zwei WM-Finalspielen, 20 Spiele, fünf Tore.

Z wie Zico (Arthur Antunes Coimbra, „der weiße Pelé“), brasilianischer Sportminister 1991, 88 Spiele, 66 Tore.

Nächste Woche: Die Top Ten der denkwürdigsten Spiele der WM-Geschichte.