Der Schick des Dachschadens
Von Polly Adler
Sie knallte auf den Boden und rief: „Ich sterbe vor Langeweile!“ Jelena Andrejewna (alias die großartige Caroline Peters) streckt alle Viere in die Luft, um ihrem Lebensekel Nachdruck zu verleihen. Der Burg-„Onkel Wanja“ ist ein Spitzenabend. Wo sonst noch – außer am Theater – kann man Menschen auf so hohem Niveau beim langsamen Verrücktwerden zusehen? Eigentlich nur noch in den eigenen vier Wänden. Der Typenreigen des Herrn Tschechow ist auch fast 120 Jahre danach von glasklarer Modernität: Gattinnen, die eigentlich einen Lebensstandard geheiratet haben und den klapprigen Ehemann dazu wohl oder übel in Kauf nehmen müssen. An der Kippe zu den schlechteren Jahren brauchen sie dann aber doch dringend die Bestätigung ihres erotischen Verkehrswerts. Grundgütige Mauerblümchen, deren inneren Werten es niemand so recht besorgen will. Seelenwracks, denen der Alkohol und all die versäumten Gelegenheiten alle Lebensenergie weggefressen haben. Öko-Schrullen, deren obsessive Beschäftigung mit Wald und Klima nur dazu dient, um sie von ihrem eigenen Elend abzulenken. Alternde Narzissten, deren Erfindungskraft immer neue Krankheiten hervorzaubert, um die Pole-Position der Aufmerksamkeit ja nicht zu verlieren. Irgendwann sagt der Burnout-Arzt Astrow: „Früher habe ich jeden Sonderling für krank und unnormal gehalten. Heute bin ich der Überzeugung, dass es der Normalzustand ist, sonderbar zu sein.“ Das war 1896. Und Tschechow kannte uns alle noch gar nicht. Inzwischen sollte man ohne einen kleinen Dachschaden besser gar nicht mehr außer Haus gehen. Denn nichts ermüdet so sehr wie das Normale, wie mir K unlängst flüsterte. Sie liebte kurz einen mountainbikenden Versicherungskaufmann: „Er war so vorhersehbar, dass mir das jede Lebensenergie raubte.“
Polly Adler spendet in „Adieu Fortpflanz“ Trost und Ratlosigkeit von der Erziehungsfront und erzählt, warum man sein Kind zwar immer liebt, aber manchmal dennoch nicht leiden kann.
240 Seiten, 22,95 Euro bei www.thalia.at