Leben

Der Bär ist los

Phil ist sich seiner Sache sicher. „Es gibt absolut keinen Grund, sich vor Bären zu fürchten.“ 32 Jahre sei er jetzt schon im Algonquin Park in Kanada unterwegs, alleine oder als Guide. Und erst vier Mal einem Bären begegnet. Passiert sei ihm noch nie etwas.
Bären meiden die Menschen. „Sie flüchten eher, als dich anzugreifen“, sagt Phil.

Trotzdem besteht er auf strikte Vorsichtsmaßnahmen, als wir den ersten Lagerplatz erreicht und das Kanu entladen haben. Den Riesenrucksack mit den Schlafsäcken und dem Zelt und die blaue Plastiktonne, die das Essen für die nächsten vier Tage enthält. „Vier Meter hoch muss die Tonne mindestens hängen. Und das ja nicht zu nahe beim Zelt.“

Dazu wird zwischen zwei Bäumen ein Seil gespannt, ein zweites Seil darüber geworfen und die Essenstonne drangebunden. Dann wird das gut 25 Kilo schwere Ding in die Höhe gezogen. Gar nicht so leicht. „Nie darf die Tonne unbeaufsichtigt auf dem Boden stehen bleiben“, sagt er. Nie. Weder tagsüber und schon gar nicht in der Nacht. Und die paar Wasch-Utensilien wie Zahnpasta oder Cremen gehören auch hinein. Der Geruch könnte Tiere anlocken.

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Waschbären, Eichhörnchen, Chipmunks, Streifenhörnchen, die aussehen wie A-Hörnchen und B-Hörnchen, und Stachelschweine. Ja, schon auch Bären, die man aber angeblich ohnehin nie trifft.
Bären meiden die Menschen. Dass nicht nur Phil, sondern auch Tafeln am Eingang zum Algonquin Provincial Park nachdrücklich auf die Gefahren hinweisen, stimmt aber dennoch nachdenklich. Und natürlich haben wir aufmerksam gelesen, was man sonst noch so tun sollte: Laut reden, damit der Bär nicht überrascht wird, mit den Händen wacheln, damit der Bär nicht glaubt, wir seien Futter und nicht davonlaufen. Der Bär ist ohnehin schneller.

Der Algonquin Park in Ontario, der Provinz im Süden Kanadas, ist mit knapp 8.000 Quadratkilometern doppelt so groß wie das Burgenland. Seen, Wälder, Granitfelsen, die mancherorts ein wenig an das Waldviertel erinnern. Pinien, Zedern und Fichten wachsen hier neben Eichen – und Ahorn, der sich im „Indian Summer“ im Oktober zuerst gelb, dann orange und schließlich knallrot verfärbt, ehe die Bäume ihre Blätter verlieren. Seinen Namen hat der Indian Summer, besagt eine Legende der Irokesen, von der Jagd auf den Großen Bären. Die Kräfte dieses Bären sind so riesig, dass sie ihn hoch in den Himmel hinauftragen. Doch die Jäger und ihr Hund folgen ihm und erlegen ihn schließlich doch. Das Blut des Bären, das auf die Erde tropft, färbt die Ahornbäume. Am Himmel indessen kann man das Sternbild des Großen Bären erkennen.

Nur eine Straße durchquert den Park, eine einzige. Doch wirklich erforschen lässt er sich ohnehin nur auf dem Wasser. Im Kanu, wie die Indianer, von See zu See. Wochenlang kann man so unterwegs sein, ohne je alles gesehen zu haben. Wobei das Paddeln die weniger anstrengende Übung ist. Die größere Herausforderung ist es, das Boot samt Gepäck von einem See zum anderen zu schaffen oder Wasserfälle, die nicht gefahren werden können, zu umgehen. Oder Biberdämme, die den Weg versperren. „Portage“ nennt sich das. Klingt elegant, ist es aber nicht. Portage heißt: Boot ausräumen, aus dem Wasser heben, Boot schultern, Gepäck – 50 Kilo oder mehr – ebenso. Und dann schleppen, bergauf, bergab, durch den Wald oder durch Gatsch. Im besten Fall vierzig, fünfzig Meter, im schlechteren schon einmal drei, vier Kilometer. Im Klartext heißt das, den Weg drei Mal zu machen: Erst mit dem Boot und dem ersten Teil des Gepäcks, dann zurück, um den Rest zu holen. Danach weiterpaddeln bis zum nächsten Lagerplatz, gekennzeichnet durch ein oranges Schild auf einem Baum. Der Lohn der Mühe: Natur, Einsamkeit, Ruhe. Denn mit einem Campingplatz, wie wir ihn hier kennen, hat das alles nichts zu tun. Pro Lagerplatz dürfen nicht mehr als zwei Zelte aufgestellt sein. Es gibt bestenfalls eine Feuerstelle und etwas abseits gelegen eine Holzkiste mit Deckel, die „Thunderbox“. Und aus.
Der Begriff „Ruhe“ ist natürlich relativ. Guide Phil, der Begleiter am ersten Tag, hatte uns gewarnt, ehe er uns verließ: „In der Nacht, da werden die Eichhörnchen zu Elefanten.“ Was er damit meinte, wird klar, sobald es dunkel wird. Zuerst ertönt ein langgezogener Ruf. Huuuhhh. Huuuhhh. Ein Wolf? Nein, die werden ja angeblich erst mitten in der Nacht aktiv. Die Lösung des Rätsels ist harmlos, aber laut. Es ist der „Loon“, der schwarz-weiße Eistaucher, ein entengroßer Wasservogel. Danach aber, kaum ist es ganz finster, geht es richtig los. „Trrrrrt“ – und dann lautes Getrampel auf dem Waldboden. Ohne Pause, unterbrochen nur von Rascheln. Das sind natürlich keine Stachelschweine, schon gar keine Bären, sondern, genau, Eichhörnchen. Die, von denen Phil meinte, sie würden in der Nacht zu Elefanten. Recht hatte er. Ach ja. Die blaue Tonne baumelt am nächsten Morgen unberührt zwischen den Ästen der Pinien.
Bären meiden den Menschen.

Die Georgian Bay bei Killarney ist Teil des Huronsees. Der ist so riesig, dass er das Gefühl vermittelt, am Meer zu sein

Für die indianischen Ureinwohner Kanadas, die First Nation, wie sie heute politisch korrekt bezeichnet werden, war das Wasser schon Verkehrsweg, lang ehe die ersten Europäer Ontario am Beginn des 16. Jahrhunderts entdeckten. Der French River, der vom Lake Nipissing bis zum Lake Huron fließt, war ein Teil der Verbindung zwischen Atlantik und Pazifik. Streng genommen ist der French River ein Fluss, doch ähnelt er vielmehr einer riesigen Seenlandschaft. Er war eine der vielen Routen, auf denen die Voyageure Waren über das Wasser transportierten. Mehr als 200 Jahre lang, vom 17. bis ins 19. Jahrhundert, paddelten bis zu zwölf Mann paarweise nebeneinander in gut elf Meter langen Kanus, gefüllt mit tonnenweise Pelzen, die in Europa heiß begehrt waren. Durch enge Passagen über Stromschnellen und „rapids“, kleine Wasserfälle. Zum Beispiel die Five Finger Rapids in der Nähe der Wolseley Bay, wo fünf Wasserläufe mit einigem Getöse aufeinandertreffen. Über ihre Entstehung erzählen die Dokis, die Indianer dieser Region, eine Geschichte. Sie handelt von einem Chief, der nach und nach den Respekt vor dem Wassergott verlor und glaubte, das Wasser beherrschen zu können. Bis eines Tages, begleitet von einem großen Knall, der Gott mit seiner Riesenhand ins Wasser patschte, den größenwahnsinnigen Chief mitsamt seinem Kanu vernichtete – und einen riesenhaften Fingerabdruck hinterließ.
Das Verhältnis zwischen den First Nations und den späteren Siedlern verlief in Kanada ebenso wenig friedlich wie in den USA. Der große Marlon Brando versuchte einst, dem damaligen kanadischen Premierminister Pierre Trudeau ein Filmprojekt über die gemeinsame Geschichte schmackhaft zu machen. Doch der war wenig angetan und wollte überhaupt keine Gemeinsamkeiten sehen. Er schmetterte das Ansinnen Brandos ab: „Was heißt hier gemeinsame Geschichte?“, sagte er. „Ihr habt die Indianer alle erschossen. Wir haben sie in Reservate gesteckt und gewartet, bis sie verhungert waren.“
Noch heute verfügen die Dokis über ein Reservat am French River. Auf die Spuren der Ureinwohner trifft man noch an vielen Orten. Auf kleinen Felsen im Wasser oder auch an den Straßen sieht man kleine Figuren, gebildet aus aufeinandergeschlichteten Steinen. „Inuksuk“ heißen sie auf Indianisch, „Menschengleich“. Sie sind quasi Wegweiser – zeigen in eine bestimmte Richtung, weisen auf ein reiches Fischgebiet hin, auf eine gute Kanuroute oder auf einen Platz, an dem man sicher übernachten kann. Inuksuks, die vor Bären warnen, gibt es übrigens nicht.
Bären meiden die Menschen.
In Thomatal im Salzburger Lungau griff Ende September ein Braunbär einen Bauern an. Der Mann wurde leicht verletzt. Und in Westkanada drang im Oktober ein Grizzly in das Haus einer Schweizer Auswanderin ein. Die Frau starb.
Zum Glück liegt Ontario nicht im Westen.

Wer an Kanada und Kanufahren denkt, denkt an den Yukon-River. Dabei ist Ontario mit seinen vielen Naturparks viel leichter zu erreichen und womöglich spannender. Austrian fliegt direkt nach Toronto (9 Stunden, ab 340 €). Von dort liegt sowohl der French River als auch der Algonquin Park oder der Killarney Provincial Park rund vier Autostunden entfernt. Die schönste Reisezeit ist der Herbst, wenn sich im Indian Summer (Oktober) die Wälder färben und Black Flies und Moskitos kaum noch quälen. Wer es komfortabel liebt, steigt am French River beispielsweise in der „Lodge at Pine Cove“ in einem der idyllischen Cottages ab. Kanus, Bootstaxi oder Angelgenehmigungen vor Ort. Wer eine Tour durch den Algonquin Park plant, bekommt die gesamte Ausrüstung – vom Zelt über das Kanu bis zum Essen und auf Wunsch auch einen Guide – bei Algonquin Outfitters oder kann eine geführte Tour buchen. In Killarney liefern Killarney Outfitters das komplette Equipment. Zum Wohnen empfiehlt sich das Sportsman’s Inn.

www.frenchriver.com
www.algonquinpark.com
http://algonquinoutfitters.com
www.sportsmansinn.ca
www.killarneyoutfitters.com
www.ontarioparks.com/en
www.de.ontariotravel.net