Leben

Christian Seilers Gehen: Die Villen am Wilhelminenberg

Ich gehe vom Bahnhof Ottakring die Thaliastraße bergauf, bewundere den Bockkeller am Anfang der Gallitzinstraße ein bisschen, bevor ich nach rechts abbiege und mich durch kleine, aber von durchaus ansprechenden Häusern gesäumte Gassen zur Wilhelminenstraße durcharbeite, auf der ich jetzt schwitzend den Wilhelminenberg besteige – freilich nicht ganz.
Bei der Villa Aurora lege ich nämlich eine Pause ein. Erstens möchte ich aus dem riesigen Garten des Anwesens meinen Blick über die Stadt schweifen lassen, und zweitens will ich mich erkundigen, was an den Gerüchten dran ist, das beliebte Ausflugslokal mit seiner traditionell gewöhnungsbedürftigen Speisekarte stehe vor der Schließung.
Nur kurz: Der Verdacht, dass auch dieser wunderbare Platz einem Immobilienentwickler in den Rachen gefallen sein könnte, kann entkräftet werden. Liebhaber der skurrilen Cordon-Bleu-Variationen müssen allerdings damit rechnen, dass die Speisekarte zugunsten zeitgemäßer Gerichte entrümpelt wird, was ich übrigens für mehr Versprechen als Drohung halte. Selten habe ich eine Sachertorte mit Schlag gegessen, an der man mehr kritisieren könnte, wäre man nicht mild gestimmt, weil Ausblick und Stimmung einander so wunderbar in den Bann schlagen.
Ich bin – Zucker, Fett! – gestärkt und will noch nicht heim. Deshalb wähle ich gegenüber der Villa Aurora den kleinen Eselsteig, auf dem ich in den nächsten Graben absteige, rechts die Kleingartensiedlung Predigtstuhl, links ein paar beneidenswerte Häuser am Waldrand. Ich bin jetzt von Ottakring nach Hernals gewechselt, und wäre nicht schon der Wilhelminenberg ein Stück Land in der Stadt gewesen, ich würde mich fragen, durch welche Pforte ich wohl in diese Fünfzigerjahre-Ländlichkeit getreten bin. Ich gehe die Ander- und die Kretschekgasse bergauf, Wald, Schatten, Stille, bis sich oberhalb der Fahrbahn kleine, interessant dimensionierte Reihenhäuser formieren. Manche sind neu geschminkt und tragen merkwürdige Erweiterungen, aber sie entspringen sichtlich einem klaren planerischen Gedanken. Als ich nachschaue, muss ich mich berichtigen: Der Gedanke war nicht nur klar, sondern revolutionär. Er war das Ergebnis einer Kooperation der Architekten Adolf Loos und Hugo Mayer im Auftrag der Stadt Wien und sollte 1921 im kargen Nachkriegswien dafür sorgen, dass Arbeits- und Unterstandslose ein Dach über dem Kopf bekommen. Menschen, die sich keine Wohnung leisten konnten, verpflichteten sich dafür, 3.000 Stunden Arbeit für die Gemeinde zu leisten und durften dafür ein Haus in der Heubergsiedlung entlang von Röntgen-, Kretschek-, Schrammel-, Trenkwald- und Plachygasse zu beziehen, ein mehr als fairer Deal. Ich versuche mir auszurechnen, wie viele Arbeitsstunden eine Wohnung auf dem Heuberg heute wert ist, scheitere aber am Verschieben der Kommastellen.
Die Gärten vor den Häusern der Heuberg-Siedlung dienten ursprünglich als Nutzgärten, durch deren Früchte sich die Heubergbewohner ernähren konnten. Jetzt schlafen sich hier ihre Autos aus. Nächster Imbiss im Schutzhaus am Heuberg: Indische Küche.

christian.seiler@kurier.at

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