Leben

Wahrheitsobessionen

Wenn man sein Leben wieder lieben lernen will, sollte man sich ein paar dänisch-schwedische Krimiserien reinziehen. Denn im finsteren Norden regnet es dauernd, die Wohnungen der Protagonisten sind mit gestalterischer Lieblosigkeit und Einsamkeit möbliert; Nahrungsaufnahme erfolgt nahezu ausschließlich in Sandwichform. Da fühlt man sich gleich viel besser. Die Lieblingsermittlerin heißt Saga Noren aus der Serie „Die Brücke – Transit in den Tod“, ist von autistischer Intelligenz und leidet an einer gänzlich exotischen Charaktereigenschaft: Sie kann nicht lügen. Wenn sie einen Callboy vernimmt, mustert sie seine Lendengegend, um dann festzustellen: „Sie haben einen erstaunlich kleinen Penis für Ihre Berufswahl.“ Auf die Frage eines Mobbing-Kollegen, wie es ihr geht, zerschießt sie diese Floskel sofort: „Verschwenden Sie nicht unsere Zeit – das interessiert Sie doch kein bisschen.“ Manchmal wünschte ich, ich könnte mehr Saga in mein Leben bringen. Man lügt angeblich mehr als 200-mal täglich. Mein Freund F sitzt neben mir und wählt zum geschätzten 27. Mal die Nummer seiner narzisstisch schwer gestörten hoffentlich Demnächst-Ex. Er fragt mich: „Glaubst du, wird sie zurückkommen?“ Ich sollte jetzt sagen: „Wenn du deine Existenz in freiwilliger Geiselhaft einer Verrückten verbringen möchtest, hoffe ich es sehr ...“ Stattdessen klopfe ich ihm ermunternd auf die Schulter: „Sicher! In Wahrheit braucht sie dich ...“ Wäre ich eine furchtlose Freundin, müsste ich ihm in der Sekunde alle verfügbaren Rettungsringe zuwerfen, damit er möglichst schnell zum Notausgang kommt. Aus Feigheit und Bequemlichkeit bekommt er von mir ein weiteres Transitvisum in den Irrsinn ausgestellt. Doch die Wahrheit taugt eben leider nur bedingt als soziales Gleitmittel.

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