Leben

Reportage: " A Bierli, Herr Hans?"

Heast Ernstl, i kriag a Göd von dir.“ – „Wieso?“ – „Na der ane gestern im Fernsehn, in deiner neichn Serie – des war ja i!“ – „Leck mi am Oasch.“ Ein echter Wiener geht nicht unter? Ganz sicher nicht. Im „Café Industrie“ am Margaretengürtel erinnert sich der blonde Erik, den alle „Wikinger“ nennen, an ein ruppig freundschaftliches Gespräch mit dem zu früh verstorbenen Ernst Hinterberger. „Vül gredt hat er ja net. Aber wenn, hat’s passt. A klasser Bursch.“ Der Kultautor war ein Stammgast – und holte sich hier wohl tatsächlich Inspiration für seine Geschichten, für seine so liebevoll wie treffend gezeichneten, echten Wiener Typen. Lokale, die sich wie das „Industrie“ über Jahrzehnte gehalten haben, sind selten geworden in Wien. In einigen werden inzwischen schicke Miniblunzn an Vanille-Erdäpfel-Püree serviert, in anderen knallt einem Elektro-Groove oder Turbo-Folk um die Ohren.

Hier, im mehr als 100-jährigen Café am Anfang der Arbeitergasse, strahlt praktisch alles eine über derartige Kinkerlitzchen erhabene Ruhe aus. Die braunen Fliesen, die dunkle Holzdecke, die Efeu-besetzten Gardinen an den hohen Fenstern. Die wuchtige Schank, hinter der Kellnerin Conny Bier zapft oder die Espressomaschine zum Dampfen bringt. „A Bierli Herr Hans?“, sagt sie, noch bevor der Mann in kariertem Hemd und Krawatte sich an seinen Resopaltisch setzt, der vor Jahrzehnten wohl doch ein Zugeständnis an modisch aktuelle Einrichtungstrends gewesen ist.Es ist Dienstag, früher Abend, 19 Uhr. Das „Industrie“ ist überraschend gut gefüllt, Rauchschwaden ziehen gemütlich durch den Raum, auch das erinnert ein wenig an „früher“. Erik der Wikinger steht mit einigen Kumpels an der Bar, hinten im Eck sitzen vier Männer am Kartenstammtisch. Sie „Zensern“ schon seit knapp fünf Stunden, sind aber noch immer mit voller Konzentration bei der Sache.

Erst als die letzte Runde gespielt, der finale Stich gemacht ist, wage ich es, zu stören. „Setzen S’ Ihna her!“, sagt Herr Karl freundlich. Seit mehr als 30 Jahren geht er mit seinen Freunden ins „Industrie“ zum Kartenspielen. Früher täglich, seit er im 23. Bezirk wohnt, haben sich die Treffen auf zwei Mal pro Woche reduziert. „Na jo, und früher hat’s da auch noch mehr Lokale geben, da simma scho a bissl rumzogen“, sagt sein Kumpel Ludwig. „Genau, des Monika und des Tivoli … und der Ritchie“, zählt Othmar auf und nickt bedächtig. „Aber die gibt’s ja alle nimmer.“ – „In manche Lokale ham s’ Stoß g’spüht“, erinnert sich Karl, „da hast zuschaun können, wie aner in einer Nacht a Million g’winnt, Schilling halt noch, und in der nächsten zwei verliert. Aber des war nie a Spiel für uns“, fügt der pensionierte Finanzbeamte hinzu und lacht heiser: „Die warn ja alle immer so nervös, die Stoß-Spieler.“ – „Na zu Recht“, sagt Othmar.

Am liebsten waren sie dann doch hier, der Herr Karl, den sie „den Finanzer“ nennen, „der Lange“, der als einziger Bier zum Kartenspielen trinkt, weil er’s mit seiner Größe am besten verträgt, ohne unkonzentriert zu werden, wie die Herren mir erklären. Der „Professor“ und Franz, „der Student“, der zwar schon längst mit der Uni fertig ist, seinen Spitznamen aber immer noch mit Würde trägt. „Des hat sich bei den Jüngeren irgendwie aufghört, des mit die Spitznamen. Schad eigentlich …“, sagt Herr Karl. Während der junge Ivo am Nebentisch mit Pudelmütze und Stöpseln im Ohr versonnen den Deep-House-Beats aus seinem iPhone lauscht, hat sich an der Bar der Herr Ernst eingefunden und wird von allen herzlich begrüßt. Er teilt sich mit dem berühmten Hinterberger nicht nur den Vornamen, sondern wohnt auch im Gemeindebau gleich nebenan, in dem der Autor bis zu seinem Tod eine 44-Quadratmeter-Wohnung hatte.

„Ich kann Ihna sag’n“, sagt er, „die Hausbesorgerin ausm Kaisermühlen-Blues war eins zu eins die unsere. Also net des Aussehen – aber die Art, Sie verstehen?“ Der 70-Jährige ist erst seit einem Jahr Stammgast. Früher schaute er nur gelegentlich vorbei, seit seine Frau gestorben ist, kommt er jeden Tag, plaudert ein bissl, trinkt ein Achterl oder zwei. Manchmal fährt er raus ins ehemalige Arbeiterstrandbad, spielt Tischtennis oder frönt seiner großen Leidenschaft, dem Fußball. „Es hilft nix, man muss ja unter d’ Leut“, sagt er. Und öffnet als Fußballfan sogar einem waschechten Salzburger wie mir sein tiefgrünes Herz: „Ihr macht's des scho richtig – und gegen Amsterdam habt's guade Chancen, weil die Ajax is a nimmer die Ajax.“Mittlerweile ist es fast 23 Uhr – „Baba Herr Helmut! Wiedersehen Herr Ernst!“, sagt die blonde Conny von hinter der Bar – junge Menschen kommen, die Oldtimer werden langsam weniger. Mit Stephan, einem jugendlichen Ex-Radiomoderator und seinem schwäbischen Freund, dem Bildhauer Florian, unterhalte ich mich kurz über die Nutzung des öffentlichen Raumes beziehungsweise dessen Rückeroberung, nehme Buchtipps entgegen – Ted Chiang, Iain Banks – und bespreche die Lage der heimischen Musik: „Ernst Molden und Walther Soyka – besser geht’s doch gar net!“, sagt Stephan. „… Love isn’t always on time“ kommt es derweil aus den Lautsprechern hinter der Bar. Dazu Steve Lukathers abgedroschener Gitarrenriff. Dezent, aber doch. Stephan zuckt kurz zusammen, grinst dann aber breit. „Warum eigentlich net? Wo hört man denn das heut schon noch“, sagt er. Sicher nicht im Fluc oder im Rhiz, seinen anderen Stammbeisln – so viel steht fest.

Was die beiden jungen Männer ins „Industrie“ bringt? „Viele neue Lokale sind heute doch austauschbar, würden ohne Probleme in jede Stadt der Welt passen. Hier hast du das Gefühl, wirklich in Wien zu sein. Alles hier, das ist nicht irgendwie gemacht, designt – das lebt“, sagt Florian der Schwabe. „Genau“, sagt Stephan.Am Nebentisch erörtern Erik der Wikinger und Herr Walter sämtliche Aspekte der Höhenangst beziehungsweise deren Abwesenheit. „Der Indianer, oiso der Mohikaner halt, der hat ja überhaupt kane. Des is genetisch.“ Der Wikinger ist Industriekletterer. Walter ist Elektriker im Ruhestand, war früher für Überlandstromleitungen zuständig, turnte sein halbes Leben auf den riesigen Masten herum. Mit seiner Frau Traudi ist er zusammen, seit die beiden 15 sind. Weit mehr als ein halbes Leben lang. Im Sommer sind sie in ihrer Gartenhütte in Stockerau, im Winter im „Industrie“. Praktisch jeden Tag. Die kleinen Veränderungen in seinem Stammcafé sieht Walter gelassen. Seit Ruth, die Tochter der legendären Wirtin Elfi, das Lokal übernommen hat, gibt’s ein bis zwei Mal pro Woche kulturelle Abende. Ruth versucht, auch ein jüngeres Publikum anzusprechen. „I find’s guat“, sagt der Wikinger, „a bissl Kultur hat no neamd gschadt.“ – „Mir is’ a bissl zu viel Blues. Oba des is jo Gschmackssache“, sagt Walter. „Wos gibt’s morgen? Literatur? Na des schauma se aun. Die Ruth mocht des scho ganz richtig.“Zumindest heute scheint das generationsübergreifende Konzept der neuen Chefin auch reibungslos zu klappen, sogar ganz ohne Kulturprogramm. Eine junge schwarzhaarige Schönheit kommt mit ihrem Freund ins Lokal. Matilde, Architektin aus Barcelona und Philosophiestudent Andreas. Matilde hat das „Industrie“ auf einem nächtlichen Streifzug entdeckt. Andreas ist zum zweiten Mal dabei, will öfter kommen. „I just love this place“, sagt die Spanierin, die hofft, dass das „Industrie“ nicht plötzlich zuuu trendy wird. „Das Lokal hat einfach was absolut Authentisches“, sagt Andreas. Kein Chichi, kein Hipsterzeug. Ein Café eben, wie es sie früher an jeder Ecke gab.

„Neilich fohr i mit der Tramway Richtung Favoriten …“ – Thomas und Erika, die beiden letzten Stammgäste an der Bar singen gemeinsam mit Wolfgang Ambros zur Musik aus der Stereoanlage. Es ist 2.30 Uhr. Drei bärtige Youngsters mit Hornbrillen trinken Flaschenbier, Stephan und Florian sind bei Filmbesprechungen angelangt. Andreas und seine Freundin diskutieren über die gewaltige menschliche Geistesleistung der – zumindest teilweise gelungenen – Überwindung des Patriarchats. „Sorry, we are closing“, sagt Kellnerin Conny zu den beiden, und, zum Rest des Lokals, ein resches: „Sperrstund is’!“ Sie muss noch die Abrechnung machen, die Getränkestände – vor 3 Uhr wird sie nicht rauskommen. Um 17 Uhr beginnt ihr Dienst.„Bei eich schreibt doch sogar der Molden“, sagt Stephan zum Abschied zu mir. „Der sollt amal spielen da. Mit dem Soyka – des würd wirklich passen.“ Alles klar, ich werd ihn fragen. Davor gibt’s aber noch einen echten Leckerbissen im bestehenden Programm: 25.1., Samstag: „WienIrish“ – Eine Band, die hochpoetische Wiener Dialekt-Texte mit griffigem Folk verbindet. Also: „Schaun sa si des aun ...“

Info:

www.cafe-industrie.at