„Es ist bedauerlich, dass die Bereitschaft zum Ausgleich fehlt“
Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und das Bestreben, präventiv Streit zu vermeiden, liegen in den Genen des Notariats, sagt ÖNK-Präsident Michael Umfahrer. Diese Eigenschaften würden in herausfordernden Zeiten wie diesen von Menschen wieder zunehmend geschätzt.
Das Jahr 2023 neigt sich dem Ende zu – was bleibt Ihnen davon in Erinnerung?
Michael Umfahrer: In Hinblick auf die Gesellschaft ist das auf alle Fälle einmal der Eindruck, dass die Polarisierung und Aggression, die in den vergangenen zwei, drei Jahren entstanden sind, nicht abgenommen, sondern sich sogar noch verstärkt haben. Ich finde es sehr bedauerlich und auch besorgniserregend, dass die Bereitschaft, den Ausgleich zu suchen, fehlt. Das gilt für den Einzelnen genauso wie für die Politik, die eigentlich als gutes Beispiel vorangehen sollte.
Da springt dann das Notariat in die Bresche ...
Ja. Denn das Bestreben, präventiv Streit zu vermeiden, indem wir alle Beteiligten an einen Tisch holen, alle denkbaren Eventualitäten miteinbeziehen und darauf achten, dass niemandem Unrecht geschieht, liegen wie die Unparteilichkeit und die Unabhängigkeit seit mehr als 150 Jahren in unseren Genen. Damit schaffen wir Vertrauen und geben Sicherheit. Das kommt bei den Menschen an: Ich habe den Eindruck, dass unser Beruf, der auf Ausgleich und Diskurs ausgerichtet ist, mehr denn je von ihnen als wertvoll betrachtet wird.
Mit seiner Arbeit leistet das Notariat einen wichtigen Beitrag zu Rechtssicherheit, Rechtsfrieden und damit für den Rechtsstaat, den sozialen Frieden und letztendlich die Demokratie. Was empfinden Sie, wenn etwa in Umfragen der Ruf nach einem „starken Mann“ laut wird?
Ich bin darüber entsetzt. Es ist meines Erachtens eine der dringlichsten Aufgaben der Politik, dem gegenzusteuern. Das muss das Commitment sein, da kann niemand etwas dagegen sagen. Wir hatten unwahrscheinliches Glück, dass wir nach dem Zweiten Weltkrieg in einen demokratischen Rechtsstaat übergeführt wurden und müssen daher alles unternehmen, um die demokratischen rechtsstaatlichen Strukturen zu erhalten. Darüber hinaus müssen wir uns bewusst machen, dass es uns eigentlich nach wie vor sehr gut geht.
Ich halte es wirklich für gefährlich, wenn schwierige Zeiten dazu genützt werden, Botschaften abzusetzen, die das torpedieren. Das fängt schon einmal damit an, dass Menschen viel zu schnell bereit sind, sich hässliche Dinge an den Kopf zu werfen – oftmals im Internet anonym.
Bleiben wir beim Berufsstand – auf welche Entwicklungen oder Leistungen im heurigen Jahr sind Sie stolz?
Wie fast alle in Österreich spüren auch wir den Arbeitskräftemangel. Daher haben wir heuer ein Projekt umgesetzt, dass die Kanzleiassistenz sichtbarer macht. Unter anderem nutzen wir in Wien Straßenbahnen als Werbeträger für das Berufsbild und verweisen auf unsere Karriereseite. Ab dem kommenden Jahr wird es dazu verstärkte Social Media-Präsenz und den Einsatz von Bewegtbild geben. Der Universitätslehrgang „Akademisch geprüfte Kanzleiassistenz“, mit dem Interessierte in Innsbruck und Wien auf die juristische Tätigkeit in einem Notariat vorbereitet werden, ist ein weiteres Mittel. Darüber hinaus haben wir die Digitalisierung weitervorangetrieben.
Inwiefern?
Zum einen ist die Möglichkeit, General- und Hauptversammlungen im Gesellschaftsrecht digital abzuhalten, ins Dauerrecht überführt worden. Zum anderen können nun auch Verlassenschaftsverfahren auf Wunsch mit Parteienvertretern digital geführt werden. Wir haben aber auch großes Interesse an der ID Austria und uns daher der Regierung als Ausgabestelle dafür angeboten.
Was hat sich auf EU-Ebene getan?
Die EU will Unternehmensregister sicherer machen. Um Fake-Eintragungen zu verhindern, soll es zu einem Doppelcheck der Unterlagen durch einen Notar sowie ein Gericht kommen. Für uns ist darüber hinaus bei grenzüberschreitenden Tätigkeiten die gegenseitige Anerkennung der Signaturen wichtig, um auch hier online arbeiten zu können.
Damit sind wir quasi schon in der Zukunft: 2024 gibt es Nationalratswahlen – was wünschen Sie sich von der nächsten Regierung?
Dass sie im Rahmen der Justizpolitik auf unser Angebot, die Justiz weiter zu entlasten, eingeht. Als unabhängige, objektive Amtsträger führen wir ja bereits gewisse Aufgaben im öffentlichen Interesse durch: Wir prüfen beispielsweise nicht nur die Identität unserer Klienten, sondern auch die Urkunden und deren Inhalte, um Geldwäsche oder Sozialbetrug zu verhindern und entlasten durch diese Vorarbeit bei den öffentlichen Registern, also Grund- und Firmenbuch, die Gerichte. Und wir führen als Gerichtskommissäre Verlassenschaftsverfahren durch.
In welchen Bereichen könnte das Notariat die Justiz weiter entlasten?
Wenn man an die geplante Reform des Ehe- und Scheidungsrechts denkt, so würde es Sinn machen, wenn einvernehmliche Scheidungen von uns durchgeführt werden könnten.
Gibt es noch andere Wünsche – etwa in Zusammenhang mit den Gebühren für Ehe- und Partnerverträge?
Definitiv. Die Vergleichsgebühr von zwei Prozent des Verkehrswerts des Vermögens, die für diese Verträge anfällt, ist wie eine Strafsteuer und sollte tatsächlich abgeschafft werden.
Welchen wichtigen Reformbedarf sehen Sie sonst noch?
Uns liegt schon lange ein wichtiger Punkt am Herzen – die verbotene Einlagenrückgewähr, die alle Unternehmen, die als Kapitalgesellschaft aufgestellt sind, betrifft. Sie ist durch die Rechtsprechung stark weiterentwickelt worden und verunsichert auf vielen Gebieten der Vertragsgestaltung, vor allem aber im Bereich der Finanzierung von Unternehmen. Es bräuchte daher eine Reform. Darüber hinaus gibt es, wie sich in unserem Alltag zeigt, punktuell Verbesserungspotenzial, etwa bei der Vorsorge oder im Erbrecht.
Blicken wir noch weiter in die Zukunft – wo soll das Notariat in fünf bis zehn Jahren stehen?
Unser Ziel ist stets ein zeitgemäßes Notariat. Dazu gehört nicht nur die Weiterentwicklung der Digitalisierung. Wir sehen schon jetzt, dass der Beratungsbedarf steigt – und er wird es auch in Zukunft tun, da die Rechtsentwicklung immer komplizierter wird und auch schneller passiert. Diese Komplexität führt dazu, dass auch bei uns die Spezialisierung immer mehr zum Thema wird. Um diesem Trend Rechnung tragen zu können, brauchen wir größere Kanzleien. Das heißt, es wird notwendig sein, die Bildung von Partnerschaften zu forcieren, die noch durch die Sprengelgrenzen erschwert wird. Und wir brauchen Erleichterungen bei den Besetzungsverfahren, um die Richtigen dort einsetzen zu können, wo sie gebraucht werden.
Unsere Klientinnen und Klienten sollen weiterhin bestmöglich beraten werden und individuelle Lösungen angeboten bekommen. Dazu haben wir vor zwei Jahren auf unserem Delegiertentag eine Berufsrechtsreform entwickelt, die derzeit im Justizministerium liegt.