Chronik/Wien

Schon eine Million Videokameras im Einsatz

Eine Überwachungskamera eines Geschäftes fing die Attentäter von Boston ein: Einer trug eine weiße Kappe, der andere eine dunkle. Bereits Donnerstagabend flimmerten die Fahndungsbilder in den USA über die TV-Schirme. Verfechter von „Big Brother“ sahen sich bestätigt. Am Wochenende erklärte etwa der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich, wie „wichtig die Videoüberwachung im öffentlichen Raum ist“, weshalb er deren Ausbau forciere.

In Österreich wurden solche Rufe nicht laut. Deutschland habe ein anderes Bedrohungspotenzial, sagen Experten. Hierzulande müssen solche Forderungen allerdings gar nicht erhoben werden, denn Herr und Frau Österreicher rüsten ganz von selbst auf. Beginnend beim Schrebergärtner über den Unternehmer bis hin zum Öffi-Betrieb – das elektronische Auge ist im Vormarsch, und das unbeobachtet von der Öffentlichkeit. Laut einer Schätzung der ARGE Daten sind in Österreich an rund 100.000 Standorten bereits eine Million Kameras im Einsatz.

Hierzulande gibt es auch offizielle Zahlen, die allerdings wenig aussagekräftig sind. Dies erfuhr der Grüne Parlamentarier Albert Steinhauser in einer Anfragebeantwortung ans Bundeskanzleramt, der die Datenschutzkommission (noch) unterstellt ist (siehe unten). In den vergangenen drei Jahren haben sich demnach die Genehmigungen von 1276 auf 2427 erhöht. Freilich: Großzügige Ausnahmen von der Registrierungspflicht, die teils für Banken, Juweliere, Trafikanten oder aber auch Hausbesitzer gelten, sind nicht enthalten. Und: Eine Genehmigung kann mehrere Standorte umfassen, und dort zig Kameras. Beispiel: Die Stadt Wien suchte ein Mal für 2800 Kameras in Gemeindebauten an.

"Ausweitung sinnlos"

Die ARGE versuchte in ihrer Hochrechnung, die vielen Ausnahmen zu berücksichtigen. Eine Ausweitung der Überwachung im öffentlichen Raum hält ihr Obmann, Hans Zeger, für sinnlos: „Es sind alle neuralgischen Punkte videoüberwacht. Mehr braucht es einfach nicht.“ Verhindern könne man damit Anschläge ohnehin nicht.

ÖVP-Innenministerin Johanna Mikl-Leitner pflichtet bei: „Eine reflexartige Verschärfung der Videoüberwachung halte (Anm. angesichts des Anschlags von Boston) ich für überzogen“. Zuerst sollte der Fall evaluiert, dann die Schlüsse gezogen werden.

Der Trend geht dennoch in Richtung „Aufrüstung“. Treibende Kraft ist derzeit gar nicht die Sicherheitsbehörde. Auf Anfrage im Innenministerium heißt es, dass lediglich 18 Hotspots videoüberwacht werden. Einen Siegeszug feiert das elektronische Auge an mehreren Fronten: In den Öffis, etwa bei den Wiener Linien, die ihren Kamera-Bestand stetig ausbauen; bei Kommunen, etwa im Wiener Umland, die gar Parkbänke filmen lassen; oder auch durch Privatinitiativen wie jener der Pfarre Maria Enzersdorf, die Geräte in der Kirche installieren ließ. Freilich: Nicht alle Geräte zeichnen auf, manche liefern nur Echtzeitbilder, oder die Speicherung ist zeitlich streng limitiert (siehe unten).

Der Wucher in Kommunen und bei Hausbesitzerin sei mit der Novelle des Datenschutzgesetzes 2010 abgestellt worden, sagt Zeger. Und der Rest? „Viele Institutionen, etwa die Wiener Linien, haben sich in eine Falle hineinmanövriert.“ Sie hätten mit der Überwachung begonnen und eine Logik in Gang gesetzt: „Wenn ihr fünf Züge überwacht, könnt ihr gleich alle überwachen.“ Doch selbst die Kleinkriminalität lasse sich damit nicht verhindern. Zeger: „In einem Überwachungsstaat sind wir schon längst angelangt.“

Die Inbetriebnahme einer Videokamera muss bei der Datenschutzkommission gemeldet werden – und zwar vorab, das heißt bevor sie installiert wird. Jedoch gibt es von dieser Registrierungspflicht großzügige Ausnahmen: Gemeldet müssen nur jene Kameras werden, die Bildmaterial digital aufzeichnen. Das Material darf nur über einen genau definierten Zeitraum, etwa für 120 Stunden, archiviert werden. Geräte, die Echtzeitbilder liefern oder auf denen Bilder analog abgespeichert werden (VHS-Videorecorder), sind nicht registrierungspflichtig. Für Banken, Trafiken, Tankstellen und Juweliere gibt es Musterverordnungen, die ihnen ein Genehmigungsverfahren ersparen. Die Polizei darf nur nach einer „Anordnung auf Beschlagnahmung“ durch die Staatsanwaltschaft auf Videomaterial zugreifen.

Wer sich durch ein Gerät in seiner Privatsphäre gestört fühlt, kann die Datenschutzkommission anrufen und ein Kontrollverfahren einleiten. Liegt ein Verstoß vor, kann dies zur Anzeige gebracht werden. Der Datenschutzkommission, die bisher dem Bundeskanzleramt unterstellt war, steht eine gewaltige Reform bevor: Ab 1. Mai wird sie aus dem BKA herausgelöst und zu einer eigenen Behörde. Grund: Der EuGH kritisierte die Verflechtung mit dem Bundeskanzleramt und die damit fehlende Unabhängigkeit.