Mordprozess um erstochene Schwester: Lebenslang für Afghanen
Ein gebürtiger Afghane, der am 18. September 2017 in Wien-Favoriten seine jüngere Schwester mit einem Kampfmesser getötet hat, um die Ehre seiner Familie wiederherzustellen, ist am Mittwoch am Landesgericht zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Der Schuldspruch der Geschworenen wegen Mordes fiel nach einer ausgesprochen kurzen Beratungszeit einstimmig aus.
"Mit dieser Tat haben Sie sich außerhalb der Gesellschaft gestellt. Dafür kann es nur die Höchststrafe geben", stellte der vorsitzende Richter Stefan Apostol in der Urteilsbegründung fest. Die besondere Brutalität und die besonders verwerfliche Motivlage wären bei der Strafbemessung zu berücksichtigen gewesen. Das Motiv wurzle "in einem verschrobenen Ehrgefühl, das mit den Wertvorstellungen der mitteleuropäischen Gesellschaft nicht in Einklang zu bringen ist", meinte Apostol. Zudem betonte er unter Verweis auf das nach Dafürhalten des Gerichts schlüssige und nachvollziehbare Gutachten des forensischen Anthropologen Fabian Kanz, der Angeklagte wäre im Tatzeitpunkt jedenfalls über 21 Jahre alt und damit als Erwachsener zu betrachten gewesen.
Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Verteidiger Nikolaus Rast legte dagegen Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung ein. Sein Mandant hatte sich in dem bis auf den letzten Platz gefüllten Gerichtssaal zum Mordvorwurf schuldig bekannt: "Ich gestehe." Zu weiteren Angaben war der Afghane nicht bereit, Fragen wollte er nicht beantworten: "Ich möchte um Verzeihung bitten. Ich habe eine Straftat begangen. Ich möchte nicht mehr weiter sprechen." Die Straftat habe er "wegen der Kultur begangen", fügte er noch hinzu.
"Das kann man nicht entschuldigen"
"Das, was hier passiert ist, kann man nicht entschuldigen", betonte der Verteidiger. Der junge Mann, der 2013 als Analphabet nach Wien gekommen war, hätte nach seiner Flucht "gewisse Sitten und Riten nicht abgelegt". Er bzw. seine Familie hätten sich "nicht nach dem Land gerichtet, in dem er lebt".
Der spätestens am 29. Mai 1996 geborene Angeklagte - er selbst behauptet, er wäre am 1. Jänner 1999 zur Welt gekommen ("Dieses Alter wurde mir von meinen Eltern gesagt"), wurde dabei aber vom anthropologischen Gutachter widerlegt - hatte mit einem Kampfmesser mit einer Klingenlänge von circa 20 Zentimeter auf seine jüngere Schwester eingestochen, die sich als 14 ausgegeben hatte, laut Obduktionsgutachten zum Zeitpunkt ihres Todes aber 17 oder 18 Jahre alt war. Er fügte ihr insgesamt 28 bis zu acht Zentimeter tiefe Schnitt- und Stichwunden zu, wovon mehrere für sich genommen tödlich waren.
Die Stiche wurden "mit großer Wucht und großer Energie" geführt, wie Gerichtsmediziner Christian Reiter darlegte. Vermutlich wurde auch noch auf die bereits am Boden Liegende eingestochen. Der Hals, der linke Oberarm und der linke Unterschenkel wurden durchstochen. Die Klinge verletzte weiters die Leber, beide Nieren, den Magen, Dünn- und Dickdarm und die Oberschenkelschlagader. Die junge Frau hatte nicht die geringste Überlebenschance.
"Sie wollte einen Neuanfang. Sie hat sich den Zwängen der afghanischen Gesellschaft widersetzt", berichtete Staatsanwalt Mario Bandarra den Geschworenen. Das Mädchen war im Juli 2017 in ein Krisenzentrum nach Graz geflüchtet, nachdem es zu Hause wiederholt zu Handgreiflichkeiten gekommen war. Ihr Vater und - angeblich auf dessen Anweisungen hin - der ältere Bruder sollen sie geschlagen haben. Die Schülerin lehnte sich immer stärker gegen die väterlichen Vorgaben - sie durfte ohne Begleitung nicht außer Haus und musste Kopftuch tragen - auf. Auch einen ersten Freund dürfte es bereits gegeben haben.
Im Krisenzentrum erzählte das Mädchen, der Angeklagte hätte sie tyrannisiert. Er soll sie etwa gezwungen haben, sein T-Shirt zu bügeln, und tätlich geworden sein, wenn sie sich weigerte. Ungeachtet all dessen und obwohl sie eine polizeiliche Anzeige erstattet hatte, ließ sich die Schülerin zu einer Rückkehr von Graz zu ihrer Familie überreden. Sie hielt bei einer ergänzenden Befragung auch ihre ursprünglichen Angaben vor der Polizei nicht mehr aufrecht, so dass sicherheitsbehördlich nicht gegen den Vater und den Bruder vorgegangen werden konnte. Die Lebensumstände zu Hause dürften sich jedoch nicht gebessert haben. Am 14. September - und damit vier Tage vor ihrem Tod - flüchtete das Mädchen erneut, diesmal in ein Krisenzentrum in der Bundeshauptstadt. Den Betreuern erzählte sie, sie hätte Angst vor ihrer Familie. Ihr Vater wolle mit ihr nach Afghanistan fliegen, um sie gegen ihren Willen zu verheiraten.
"Sie hat ausgeschaut wie ein typisches muslimisches Mädchen. Lange Kleider, Kopftuch", erinnerte sich eine Mitarbeiterin des Jugendamts im Zeugenstand. Das Mädchen hätte sich sehr auf die Schule und die bevorstehenden berufsvorbereitenden Tage gefreut: "Sie hat so gewirkt, als hätte sie sich bei uns sicher gefühlt."
Am 18. September passte sie dann ihr älterer Bruder in der U-Bahn-Station Reumannplatz ab, als sie in die Schule wollte. Seinen Angaben zufolge wollte er sie überreden, wieder nach Hause zu kommen. Als die Schwester nicht mit sich reden ließ und ihm einen Stoß versetzte, zog er laut Anklage in einem Innenhof in der Puchsbaumgasse sein Messer und brachte sie damit zu Tode. "Sie hat sich gegen Vater und Mutter und die Regeln der afghanischen Community gestellt", bemerkte dazu der Staatsanwalt. Er verwies explizit darauf, dass das Mädchen beim ersten Schulbesuch noch von einer Mitarbeiterin des Kriseninterventionszentrums begleitet wurde. Das war in weiterer Folge aus personellen Kapazitätsgründen nicht mehr möglich: "Das wurde ihr zum Verhängnis."
"Gut, dass sie tot ist"
Nach seiner Festnahme erklärte der Angeklagte, die Schwester hätte ihn gestoßen und ihm damit gezeigt, dass sie keinen Respekt vor ihm habe. "Da habe ich auch keinen Respekt mehr vor ihr gehabt", gab er zu Protokoll. Er bedauere zwar ihren Tod. Es sei aber "gut, dass sie tot ist, weil sie die Ehre der Familie beschmutzt hat", zitierte der Staatsanwalt aus dem Polizeiprotokoll.
"Er ist selbst Opfer der Familie", gab Verteidiger Rast zu bedenken. Auch sein Mandant hätte unter der starken Hand des Vaters gelitten und diese zu spüren bekommen. Der mutmaßlich 22-Jährige habe zuletzt im Park geschlafen, weil er es zu Hause nicht mehr aushielt. Er sei vom Vater in jüngeren Jahren mit einem Kabel verdroschen worden, sei 2015 selbst ins Krisenzentrum gegangen. Für den Verteidiger stand fest, dass familiäre Hintergründe ausschlaggebend für die Bluttat waren. Der Angeklagte sei "in Wirklichkeit nichts Anderes als ein Werkzeug", sagte Rast.
Der Verdacht, dass der Vater bzw. die Familie den Angeklagten angestiftet hatten, ließ sich nicht erhärten. Fest steht, dass der Angeklagte kurz vor bzw. während des Zusammentreffens mit seiner jüngeren Schwester über ein Headset telefonierte - mit wem, ließ sich nicht ermitteln. Auf Bildmaterial der Wiener Linien ist auch zu sehen, wie unmittelbar nach dem 22-Jährigen dessen Vater eine Rolltreppe in der U-Bahn-Station Reumannplatz benützt. Eine Beteiligung an dem Verbrechen war dem Mann aber nach längeren Erhebungen und auch nach Auswertung seiner Rufdaten nicht nachzuweisen. Die Staatsanwaltschaft hat gegen ihn kein Verfahren eingeleitet.
Die psychiatrische Sachverständige Gabriele Wörgötter bescheinigte dem mutmaßlich 22-Jährigen eine "grenzwertige intellektuelle Begabung". Eine höhergradige geistig-seelische Abartigkeit liege aber nicht vor. Der junge Mann sei sehr von den kulturell-familiären Vorstellungen geprägt, in die er hineingeboren wurde. "Das, was die Familie bestimmt, steht über allem. Die Gesetze sind zweitrangig", erläuterte Wörgötter. Insofern sei der Angeklagte "in gewisser Weise manipulierbar. Er hat sehr wenig eigenes." Und weiter: "Er ist ein Produkt seiner Familie."
Die Bluttat bezeichnete Wörgötter als "Overkill-Delikt. Er hat wesentlich öfters zugestochen, als es erforderlich gewesen wäre, um seine Schwester zu töten". Das lasse auf eine "intensive emotionale Bindung" schließen, hielt die Sachverständige fest: "Es muss eine enorme Wut und aufgestauter Hass vorhanden gewesen sein."