Chronik/Wien

Kinderheim des Grauens: "Wir wurden alle vergewaltigt und verkauft."

Zwei Frauen brechen ihr Schweigen. Vor 40 Jahren kamen sie in das Kinderheim der Stadt Wien im Schloss Wilhelminenberg. Was die beiden Schwestern, damals sechs und acht Jahre alt, dort erlebten, erzählen sie in einem erschütternd offenen Interview, das der KURIER in zwei Teilen bringt.

Eva L., 49, und Julia K., 47, (beide Namen von der Redaktion geändert, Anm.) geben ein schockierendes Zeugnis der Zustände in öffentlichen Heimen in den 1970er-Jahren. Psychoterror, Gewalt in ungeahntem Ausmaß und jahrelange sexuelle Misshandlungen.

KURIER: In einem Vorgespräch sprachen Sie über sexuellen Missbrauch im Kinderheim Schloss Wilhelminenberg ...
Eva L.:
Sie haben uns auch gezwungen, dass wir uns nackt ausziehen und ans Fenster stellen oder auf die Terrasse. Da durften wir nichts bedecken. Vielleicht sind wir fotografiert worden, ich weiß es nicht. Die Erzieherinnen haben uns dazu gezwungen. Das waren Waltraud, die Linda ... das war öfters.

Waltraud und Linda waren Erzieherinnen?
Eva L.:
Ja.
Julia K.: Und auf einmal waren Männer da, die uns vergewaltigt haben. Wir haben da so eine Wiese gehabt, wir haben dazu gesagt "Schlangenwiese". Und da hat man dann immer in der Nacht die Taschenlampen gesehen. So Lichter. Ich weiß nicht, ob das ein Zeichen war mit den Schwestern, ob sich die was ausgemacht haben, denn die Männer waren auf einmal bei uns im Zimmer und haben uns dann eben vergewaltigt.

Wie viele Männer waren das?
Eva L.:
Es waren mehrere Männer und mehrere Mädchen. Im Zimmer waren 20 Mädchen. Da ist jede drangekommen. Wir haben darüber nie im Heim gesprochen, weil die Scham so groß war und die Schmerzen, diese unerträglichen Schmerzen (weint), was uns die angetan haben.
Julia K.: Es waren mehrere. Vielleicht sechs oder sieben. Wir haben uns versteckt, die haben uns dann rausgezogen.

Gibt es Namen?
Julia K.:
Gar nichts, gar nichts. Ich habe sie nicht gekannt.
Eva L.: Das waren fremde Männer, die wir nicht kannten. Die haben Taschenlampen gehabt und müssen irgendwo reingelassen worden sein. Im Flur habe ich mehrere Männer mit Taschenlampen gesehen. Aber gekannt habe ich niemanden. Ich habe, ehrlich gesagt, so eine Angst gekriegt, weil ich ja nicht gewusst hab', was da überhaupt passiert. Vielleicht waren es Hausarbeiter oder Gärtner oder Männer von außerhalb.

Das war im Schlafsaal?
Julia K.:
Ja, bei den Hasen. Die Gruppen hatten alle solche Namen. Wir waren in der Hasengruppe. Die Männer sind zu uns reingekommen. Wir wurden alle vergewaltigt. Alle.

20 Mädchen?
Julia K.:
Ja.

Wie oft sind Sie vergewaltigt worden?
Eva L.:
Manchmal täglich und dann war ein, zwei Wochen Ruhe.
Julia K.: Über Jahre. Und es hat ja mehrere Mädchengruppen gegeben.
Eva L.: Es war auch so, wir waren im Schlafsaal in so Stockbetten untergebracht. Dann ist die Türe aufgegangen und wir haben geglaubt, es ist halt jetzt wieder so weit, dass wir geschlagen werden oder knien müssen. Dann sind wir aus dem Bett gezerrt worden und in einen Raum gebracht worden. Welcher Raum das war, weiß ich nicht. Wer es war, weiß ich auch nicht. Geholt hat uns der Jochen, den ich an der Stimme erkannt habe. Er hat gesagt "Nix sagen". Oder war es der Brian? (Die "Herr Jochen" - mittlerweile gestorben - und "Herr Brian" - Identität ungeklärt- genannten Männer waren Erzieher, Anm.)

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In dem Zimmer sind Sie auch vergewaltigt worden?
Eva L.:
Ja.
Julia K.: Ich hab' gehört, wie meine Schwester geschrien hat, weil da ein Mann dabei war, der sie dann herausgezerrt hat an den Haaren und sie vergewaltigt hat. War das der Herr Jochen oder der Herr Brian, oder war das ein anderer Erzieher? Ich sehe die Gesichter vor mir, weiß aber den Namen nicht mehr.

Sie wurden von fremden Männern und von Erziehern vergewaltigt?
Julia K.:
Ja. Wir wurden zu der Heinzelmännchen-Gruppe gebracht. Da war der Herr Jochen. Wir haben zu ihm immer Onkel oder Bruder gesagt. Da waren auch der Herr Brian und zwei andere Erzieher, nur kann ich mich an die Namen nicht mehr erinnern. Es waren mehrere und es waren auch Burschen im Schloss Wilhelminenberg. Da kommt dann der Herr Brian zu mir und hat mich in sein Zimmer geholt, hat einmal mit mir gesprochen und ... dann hat er ... eben angefangen, mich zu streicheln und eben gesagt, wir wollen ein bisschen was spielen und so. "Du brauchst keine Angst haben." Ich wollte nicht, dass er mich angreift. Aber das war ihm total egal. Er hat mich gezwungen, dass ich bei ihm Sachen mache und er hat das dann auch bei mir gemacht und dann hat er mich vergewaltigt. Und dann hat er zu mir gesagt: "Das war ja eh nicht so schlimm, das war ja eh ein schönes Spiel für uns beide." "Julia", hat er gesagt, "das werden wir öfters machen."

Das wurde dann auch öfter gemacht?
Julia K.:
Ja. Ja.

Nur von dem einen Mann?
Julia K.:
Nein, es war auch der andere Erzieher, der Herr Jochen, und dann waren noch zwei andere dabei. Die waren dann einmal alle ... darunter war auch ein anderes Mädchen. Es war immer irgendwie ... ich weiß nicht, wurde das mit den Schwestern abgesprochen, dass das eigentlich auch so gehen hat können? Es müssen bestimmt auch viele Mädchen von dort von den Erziehern sexuell missbraucht worden sein, weil bei meiner Schwester war das ja auch der Fall. Ich habe gesehen, wie der Herr Jochen oder der Herr Brian gekommen ist und sie mit ihm in ein Zimmer gegangen ist.
Eva L.: Ein Mal war es so schlimm, dass ich auf die Krankenabteilung gegangen bin, heimlich, weil ich so stark geblutet hab. Und der Arzt hat mich dort aufs Brutalste berührt und gefragt, was ich da will und hat gelacht und hat gesagt: "Du bist keine Jungfrau mehr." Ich hab' mich nicht ausgekannt, was das ist. Die größeren Mädchen von der anderen Gruppe haben uns dann ein paar so Sachen erzählt, aber wir haben damit nicht viel anfangen können.

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Wie alt waren Sie, als die Vergewaltigungen zum ersten Mal passiert sind?
Julia K.: Sechs oder vielleicht sechseinhalb. Ich kann es wirklich nicht sagen.
Eva L.: Wie oft ich vergewaltigt wurde, kann ich nicht sagen. Es war sehr, sehr oft und ist über viele Jahre gegangen. Ich war ja noch selbst ein kleines Kind. Es hat angefangen, da war ich acht. Gleich im ersten Jahr. Nicht bis zum Schluss, weil die
Erzieher dann weg waren, weil auch die Buben weggekommen sind. Ich war genau 13, wie das das letzte Mal von Männern passiert ist.

Glauben Sie, dass in dem Zusammenhang Geld geflossen ist?
Eva L:
Im Nachhinein kommt es mir so vor, dass jemand für uns bezahlt wurde. Weil sie uns immer zurechtgemacht haben. Wir mussten Strumpfbandgürtel anziehen und durften uns nicht die Haare schneiden lassen.

Strumpfbandgürtel?
Eva L.:
Ja, wir haben Strümpfe bekommen und Strumpfbandgürtel, was ich gar nicht gekannt hab'. Daheim habe ich nur eine Strumpfhose angehabt. Wir sind von den Schwestern richtig herausgeputzt worden. Ich habe mir nicht die Namen von allen Schwestern gemerkt. Aber die Schlimmste, die Linda, hat auf jeden Fall davon gewusst. Waltraud, Gabriele, die B. ... auf jeden Fall, die waren zu uns auch sehr brutal.

Wurde der Verdacht der Kinderprostitution schon bestätigt?
Eva L.:
Ja, vom Weissen Ring (Opferschutzorganisation, Anm.) sind wir heuer zu einer Anwältin geschickt worden. Ich habe ihr erzählt, was passiert ist. Und sie hat gesagt: "Ja, eindeutig, ich weiß, ihr seid verkauft worden." Die Erzieherinnen wollten uns dann auch zu so etwas zwingen, vor allem die Schwester Lydia war da ganz arg.

Wozu wollten die Sie zwingen?
Eva L.:
Dass wir bei ihnen im Bett übernachten. Das war auch schon früher der Fall. Mit 14 bin ich dann aus dem Heim ausgerissen.
Julia K.: Da hat es auch Mädchen gegeben, die haben gesagt, sie fliehen und gehen zur Polizei und sagen das, was hier alles passiert. Und diese Mädchen haben wir nie mehr wiedergesehen.
Eva L.: Die Erzieherinnen haben uns einmal auf die Terrasse rausgezwungen und alles beleuchtet. Da hab' ich gesehen, dass der Erzieher Jochen ein Mädchen, den Namen weiß ich nicht ... Das Mädchen lag am Boden und hat geschrien. Er hat so einen Tannenzapfen in den Unterleib eingeführt. Sie hat ganz stark geblutet und hat geschrien. Er hat zu uns gesagt: "Trauts euch ja nicht ausreißen, sonst passiert dasselbe mit euch." Wir sind fast verrückt geworden vor Angst.

Wissen Sie, wie das Mädchen geheißen hat?
Julia K.:
Sie war in einer anderen Gruppe, ich weiß leider ihren Namen nicht. Das war ein großes Mädchen. Sie war bei den Sternenkindern oben.

Haben Sie das Mädchen später wiedergesehen?
Julia K.:
Nein, dieses Mädchen haben wir überhaupt nie wieder gesehen.
Eva L.: Das Mädchen ist verschwunden. Wir haben uns damals gedacht: "Die haben sie umgebracht." Das ist auch bei vielen anderen passiert, dass die weggekommen sind, wenn sie schwer verletzt worden sind. Wir haben die nie wiedergesehen.
Julia K.: Sie haben gesagt, dass passiert uns auch, wenn wir davonlaufen und was erzählen. Es war Psychoterror. Heute denk' ich, dass diese Schwester oder die anderen Schwestern gesagt haben, "Die g'hört ja umgebracht." Ob die das nicht wirklich gemacht haben? Warum ist im Jahr 1977 dieses Schloss Wilhelminenberg geschlossen worden? So abrupt, wissen Sie? Ich habe gemerkt, auch die Heimleiterin war nervös zu dieser Zeit.

Demnächst im KURIER: Psychischer Terror im Jugendheim. Am Dienstag: Schwester Linda wehrt sich im Interview vehement gegen die Vorwürfe.

Schloss Wilhelminenberg: Kinderheim und Sterne-Hotel

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Es war im Jahr 1781, als der damalige Feldmarschall Franz Moritz Graf von Lascy das Grundstück am Stadtrand von Ottakring kaufte und das Schloss erbauen ließ. Ein Freund kaufte ihm das Besitztum ab und erweiterte es um weitere Waldteile und Hutweiden. Daraus wurde der heute 120.000 Quadratmeter große Park rund um das Schloss.
Nach mehreren Besitzerwechseln erging das Grundstück an Moritz von Montléart, der 1866 Grund und Schloss seiner Frau Wilhelmine schenkte.

Seitdem hat das Schloss am Wilhelminenberg viele Gestalten angenommen. Im Ersten Weltkrieg diente es als Lazarett für Kriegsopfer, im Zweiten wurde es zu einem Heereslazarett mit Anschluss an das Wilhelminenspital. Es war Sitz der Wiener Sängerknaben und ein städtisches Heim.

Nach dem Krieg wurde es zu einem Heim für erholungsbedürftige Kinder und ehemalige KZ-Häftlinge umgebaut, ehe es in den Sechzigerjahren zu eben diesem Heim für Sonderschülerinnen und Sonderschüler umfunktioniert wurde. 1977 wurde das Heim geschlossen, die Kinder teilte man auf andere Heime auf.

Gästehaus 1986 beschloss die Stadt Wien, das Schloss zu sanieren, das Gebäude wurde zum Gästehaus und schließlich zum Vier-Sterne-Hotel. An das Heim für Sonderschüler erinnert das Schloss noch heute: das Gemäuer, die Stiegenaufgänge oder die Doppelflügeltüren.

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