Justiz sucht Arzt per Haftbefehl
Von Nihad Amara
Von Kindesbeinen an leidet der Patient an spastischen Lähmungen. Er kann sich nur gestützt durch seine Schwester aufrecht halten.
Kann so jemand auf einem Ergometer-Rad einen medizinischen Leistungstest absolvieren? Natürlich nicht. Geht es nach den Abrechnungen eines renommierten Wiener Internisten, lautet die Antwort „Ja“. Der Mediziner hat nämlich – so steht es in der Anklage der Wiener Staatsanwaltschaft wegen schweren gewerbsmäßigen Betrugs – der Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK) Behandlungen verrechnet, die er nie erbracht hat. Für den erwähnten, körperlich eingeschränkten Patienten soll er eine „ergometrische Untersuchung“ in Rechnung gestellt haben.
Haftbefehl
Am Montag blieb im Saal 205 des Wiener Straflandesgerichts auf der Anklagebank allerdings ein Platz leer: Jener des besagten Arztes Ahmet Hamidi, 58. Seine ehemalige Arzthelferin, 44, und eine Ordinationsgehilfin, 32, mussten vor einem Schöffensenat die Suppe auslöffeln. Auch für Hamidi ist die Sache nicht gegessen: Die Richterin lässt den Arzt und Ex-Vizepräsidenten der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGIÖ) „per Haftbefehl“ suchen. Er soll sich im Ausland aufhalten. Für ihn gilt die Unschuldsvermutung.
Zwölf Jahre lang war der Spezialist für Diabetes der zweite Mann in der IGGIÖ – bis er über eine Aussage stolperte. Sport, soll er sinngemäß gesagt haben, sei für Mädchen ungesund. Im Juni 2011 nahm er bei der IGGÖ den Hut (mehr dazu siehe unten). Jetzt steht auch seine Renommee als gefragter Internist auf dem Spiel.
Angesichts der Schadenssumme von 9896,70 Euro plus einem „Betrag unter 3000 Euro“ wirkt der Haftbefehl auf den ersten Blick unverhältnismäßig. Doch der Fall hat offenbar eine weit größere Dimension, als es die Anklageschrift nahelegt.
Niemand weiß das besser als jener Mann, der am Montag die WGKK vor Gericht vertrat. Sein Name: Franz Schenkermayr. Ihm und seiner Truppe der WGKK mit dem sperrigen Namen „Missbrauch-Entdecken-Prävention“ (MEP) ist es zu verdanken, dass Abrechnungsbetrügereien vor Gericht landen. Im Vorjahr deckten sie 382 Fälle auf, holten der Kasse eine halbe Million Euro zurück. Schenkermayr ergriff mehrmals das Wort: „Die Schadenssumme in der Anklageschrift ist nur die Spitze des Eisbergs.“
Malversationen
Seine Arbeit muss man sich wie jene eines Kriminalisten vorstellen: Patienten sind Zeugen, Schenkermayr stellt Fragen. Hamidi war Anfang 2011 ins Visier der MEP geraten: Er hatte im Jahr davor für 97,1 Prozent seiner Patienten eine Rektaluntersuchung verrechnet. Man einigte sich auf eine Strafzahlung von 50.000 Euro. Die MEP-Ermittler ließen aber nicht locker. Sie luden 222 Patienten aus zwei Quartalen aus dem Jahr 2011 vor – und stießen erneut auf Malversationen.
Es ging um EKG-, Lungen- und ergometrische Untersuchungen, an die sich die Befragten nicht erinnern konnten. Schenkermayr und der Staatsanwalt mutmaßen, dass Hamidi nicht nur sechs Monate lang, sondern seit Jahren falsch abgerechnet habe. Ein EDV-Techniker des Arztes bestätigte im Zeugenstand den Verdacht. Nachgeforscht wurde aber nie, weil laut Anklage der „Aufwand immens“ sei.
„Wenn ich nur diese drei Behandlungen auf drei Jahre hochrechne, sind das 360.000 Euro“, erklärt Schenkermayr. Wird man Hamidis habhaft, will er diesen Betrag auf dem Zivilrechtsweg einklagen.
Bestraft wurden zwei Mitläufer. Die Arzthelferin, die erst vor Gericht gestand, die Listen angeblich im Auftrag Hamidis gefälscht zu haben, fasste wegen schweren Betrugs sieben Monate bedingte Haft aus. Die laut Schenkermayr „kooperative“ Ordinationsgehilfin, die bei der Aufklärung mithalf, kam mit drei Monaten bedingt davon.
Der EDV-Techniker hakte nach. Was geschieht mit dem Haftbefehl, fragte er die Richterin. Das hänge vom Aufenthaltsort Hamidis ab, erklärte sie. „Dem Gericht sind da oft Grenzen gesetzt.“
Der Arzt Ahmet Hamidi sorgte im Sommer 2011 in seiner Funktion als Vizepräsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ) für Aufregung. Bei einer Diskussionsveranstaltung in Wiener Neustadt soll er gemeint haben, zu viel Sport sei für den weiblichen Organismus nicht gut. Hamidi legte nach Kritik an seiner Person das Amt als Vizepräsident zurück.
Der Mediziner betonte jedoch, dass er derartige Aussagen nie getätigt habe. Deshalb sei sein Rückzug auch nicht als Schuldeingeständnis zu werten. Dieser würde nur dazu dienen, die Diskussion um die Glaubensgemeinschaft zu beenden. Er sei seit fast 30 Jahren in Österreich und habe immer klar gemacht, dass er sich zur hiesigen Gesetzgebung und Kultur bekenne.Außerdem würde er als Arzt mit Spezialgebiet Übergewicht und Diabetes immer Bewegung als erstes empfehlen. Er wollte in seiner Aussage lediglich gewarnt haben, dass Extremsport für Damen schädlich sei. Für Männer gelte aber das gleiche. Bei Frauen kämen aber noch hormonelle Störungen hinzu. Das sei auch medizinisch bewiesen. Und überhaupt sei diese Meinung von ihm nicht als „islamische Stellungnahme, sondern als die eines Arztes“ zu sehen.