80 Massenlager mitten in Wien: Bettler-Syndikat narrt Behörden
Wie eine Ruine sieht das Haus in der Neulerchenfelder Straße 88 aus. Zerbrochene Fenster und große Risse in der abgewohnten Fassade – nichts lässt erahnen, dass Menschen an der Adresse wohnen.
Als der KURIER sich vor Ort umsieht, wird schnell klar, dass sogar extrem viele Personen in dem Haus untergebracht sind. Alarm geschlagen hat Martin B., der nur eine Straße weiter aufgewachsen ist. "Seit eineinhalb Jahren hausen die Menschen hier. Sie schlafen auf Decken, die einfach auf dem Boden liegen", erzählt der Wiener.
Anrainer in Angst
Was in dem Haus vor sich geht, weiß er nicht. Die Behörden halten sich mit Informationen zurück. Fest steht nur, dass fast keiner der Bewohner Deutsch spricht und auffällig oft Luxusautos kommen, um die Mieter abzuholen. Die KURIER-Recherche ergab am Mittwoch schließlich das, was Martin B. hinter diesen Vorgängen befürchtete: Das Haus ist von einem Bettler-Syndikat gekauft worden. Bestätigt wurde diese Information von Gerald Tatzgern, dem Leiter der Zentralstelle zur Bekämpfung der Schlepperkriminalität: "Uns ist diese Adresse bekannt, und wir ermitteln schon längere Zeit in diesem Fall." Verschärft hätte sich die Situation noch zusätzlich, als ein anderes Bettler-Quartier in der Mautner-Markhof-Straße aufgelöst wurde. Viele der Bettler zogen dann in den maroden Altbau nach Wien-Ottakring.
Hinter den Quartieren, die an ein Massenlager erinnern, stecken meist gut organisierte Strukturen. Die Bosse werden mit den Bettlern reich. "Es sind so viele Menschen in den Häusern, weil die Miete extrem hoch ist", sagt Tatzgern weiter. Obwohl die zwielichtigen Machenschaften bekannt sind, können die Behörden wenig tun. "Wenn wir die Bewohner befragen, geben sie nicht zu, dass sie ins Land gelockt wurden und hier betteln. Sie haben Angst. Teilweise gibt es in den Organisationen sogar Folter", erklärt der Experte.
Tatzgern schätzt die Zahl der Bettler in Wien derzeit auf 1500: "Der Großteil sind Rumänen, die in rund 80 solcher Massenlagern hausen."
Nennen wir sie Marika. Mehrmals pro Woche sitzt sie am Ausgang einer U4-Station. Zu geben hat sie nicht viel – sie singt und bittet mit gefalteten Händen um Almosen.
Um Bettlerinnen wie Marika ist ein Politikum entbrannt. Zuletzt in Salzburg: ÖVP und das Team Stronach warnten lautstark vor Bettlerbanden aus dem Osten. Die Krone peitschte in Salzburg und Linz mit einer Kampagne ein: "Wann kommt das Verbot für Profi-Bettler?!".
Was aber ist so störend an Bedürftigen, dass vielerorts der Ruf nach Verboten laut wird? Und was hilft gegen die Verunsicherung der Passanten und die Armut der Bettelnden?
Letzteres versucht Salzburg mit einem Spagat zu beantworten: Während bestimmte Formen des Bettelns unter Strafe stehen, soll es erstmals in einer Landeshauptstadt eine eigene Basis-Versorgung für Bettler geben (siehe unten).
"Mafia"
Ansätze in der Bettler-Politik, die wie in Salzburg eine soziale Handschrift tragen, sind rar. Ferdinand Koller, Sprecher der Bettellobby Wien, macht dafür den oft strapazierten Begriff "Bettelmafia" verantwortlich. Dahinter steckt der Gedanke, dass jemand die Menschen zum Betteln zwinge. Ergo fließe ein gespendeter Euro nicht in die Tasche des Bedürftigen, sondern in die dicke Geldbörse eines Kriminellen. "Wenn es das überhaupt gibt, ist es eine Ausnahme", sagt Koller. Politik und Medien sollten aufhören, "die Menschen zu instrumentalisieren". Organisiert seien Bettler zwar, aber auf freiwilliger Basis. Zu spüren bekommen das Menschen wie Marika. Sie zieht die Blicke auf sich, viele wenden sich ab. "Es ist unangenehm zu sehen, dass jemand so arm ist", sagt Koller. Die "Mafia-Geschichten" würden den Eindruck erwecken, dass die Armut nicht echt sei. "Das ist sie aber." Von den Verboten hält er nichts. Die Untersagung des gewerbsmäßigen Bettelns käme einem generellen Verbot gleich. "Wer ein zweites Mal erwischt wird, bettelt gewerbsmäßig", erklärt Koller. Damit würde man "Armut bestrafen". Die Hälfte der Bettler arbeitet organisiert, davon ist Gerald Tatzgern, Leiter der Zentralstelle im Bundeskriminalamt (BK) zur Bekämpfung des Menschenhandels, überzeugt. Und ein kleiner Teil der Bettler werde durch Menschenhändler ausgebeutet. Vor Kurzem wurde ein Fall publik, bei dem angeblich ein schwer behinderter Rumäne von Landsmännern an einen Baum gefesselt und gefoltert wurde, um ihn zum Betteln zu zwingen.
Allein 1100 Bettler aus Rumänien hielten laut BK im Vorjahr in Wien die Hand auf. 430 wurden wegen organisierter Bettelei angezeigt. Ein allgemeines Bettelverbot gibt es in der Bundeshauptstadt nicht. Soll es auch nicht geben.
Eine Steigerung nehme man nicht wahr. "Aber Berichterstattung schafft Aufmerksamkeit. Wenn eine Zeitung X den Kampf gegen die Bettlermafia ausruft, dann fällt mir die Person, die regelmäßig vor dem Supermarkt bettelt, auch eher auf", heißt es aus dem Büro von Stadträtin Sandra Frauenberger. "Alle in einen Topf zu hauen, kann nicht richtig sein." Das Problem sei nicht die Bettelmafia. "Sondern rassistische Tendenzen, die da gegen Gruppen entstehen." Dieser Meinung ist auch die Caritas. "Politische Kampagnen sorgen dafür, dass die Bettler in der persönlichen Wahrnehmung mehr werden", sagt Geschäftsführer Klaus Schwertner. "Aber wir müssen es aushalten, mit Armut konfrontiert zu werden."