Kindgöttinnen müssen erst wieder gehen lernen
Die 21-jährige Chanira Bajracharya war knapp sechs Jahre alt, als sie im April 2001 von Hindu-Priestern als sogenannte Kumari ausgewählt wurde. Diese jungen Mädchen werden als Inkarnationen der Hindugöttin Taleju angesehen und sowohl von Hindus als auch Buddhisten verehrt. Im Kathmandutal gibt es neun solcher Kindgöttinnen.
Wie hart der Alltag dieser Kinder ist, berichtete Chanira Bajracharya der Deutschen Presseagentur. Als sie mit 16 Jahren "unrein" wurde und wieder zu ihrer Familie zurückkehren durfte, konnte sie kaum selbstständig gehen. Denn die Kumaris leben abgeschottet von der Welt in einem Tempel, werden nach einer langen Schminkprozedur auf einen Art Thron gesetzt und empfangen tagein tagaus Pilger, die die Füße der Göttin mit ihrer Stirn berühren. Nur ein Mal im Jahr, zum Ende der Regenzeit, werden sie auf einer Sänfte durch die Straßen der antiken Königsstadt Lalitpur südlich von Kathmandu getragen, wo Tausende von Gläubigen und maskierten Tänzern die Hindugöttin Taleju verehren.
"Ich wünschte, es hätte mich jemand auf meiner Sänfte getragen", erinnert sich Chanira Bajracharya an ihre ersten Wochen in Freiheit. Die Rückkehr in ein "normales Leben" fiel ihr schwer, da sie den Umgang mit anderen Jugendlichen nicht gewohnt war. Sie war zu schüchtern, um in Kontakt zu kommen.
Kinderrechtler halten die Tradition der Kindgöttinnen für nicht mehr zeitgemäß. Seit Anfang der 2000er-Jahre fordern sie und viele Eltern, dass die Mädchen wenigstens eine Schulausbildung erhalten und zumindest zeitweise mit gleichaltrigen Kindern spielen und ihre Eltern sehen dürfen. Chanira Bajracharya hatte das Glück, unterrichtet zu werden. Eine Petition beim Obersten Gerichtshof, Kumaris abzuschaffen, scheiterte. Stattdessen wird das strenge Regelwerk reformiert.
Chanira Bajracharya ist heute sehr stolz, eine Kumari gewesen zu sein. Sie macht gerade ihren Master in Betriebswirtschaft.