Chronik/Welt

Die Zukunft von Portlands ältestem Kostümladen hängt am seidenen Faden

Ratsch.

Gina Pawer kappt den Faden, mit dem sie soeben das dunkelbraune Stofffell an dem Biberkopf fixiert hat. Als nächstes greift sie nach dem Schwanz und der Farbe. Ihre Bewegungen sind geübt, automatisiert. Sie könnte den Biber wohl in ihrem Schlaf fertigen. Nicht, dass ihr dieses Wissen länger von Nutzen sein wird. Das ist wahrscheinlich das letzte Oregon-State-Park Bibermaskottchen, das Gina Pawer je herstellen wird.

Denn „Helen’s Pacific Costumers“, der Kostümladen im Nordosten Portlands und Ginas derzeitiger Arbeitgeber, wird Ende August schließen. Das lässt nicht nur Tausende handgemachte Kostüme hängen, sondern auch die Personen, die ihr Leben rund um die 200 Quadratmeter große Fantasiewelt aufgebaut haben.

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Im Alter von 71 Jahren hat Pam Monette, die derzeitige Besitzerin, beschlossen, in Rente zu geben. Es ist ein Schritt, den sie lange hinausgezögert hat. Lange Zeit war sie überzeugt gewesen, einfach ewig weiterarbeiten zu können. Aber zuletzt gab es einige gesundheitlichen Problemen und ihr wurde klar, dass sie zu alt geworden ist. Sie seufzt, als sie das nun sagt, am Schreibtisch in ihrem überladenen kleinen Büro sitzend und einen Schluck von dem Mc Donald’s Iced Coffee nimmt.

Ihre violetten Haare strahlen im Licht der Nachmittagssonne, die durch das Fenster hereinfällt. Die Haarfarbe passt zu dem farbenfrohen Geschäft, in dem sie arbeitet. So wie der starke Blick in ihren Augen zu einer Person passt, die eines von Portlands ältesten Einzelhandelsunternehmen führt. Ein Unternehmen, das schließen muss, weil kein Nachfolger zu finden ist.

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„Das Geschäft hat sich nun einmal verändert.“ Es ist ein Satz, den Pam Monette in letzter Zeit des Öfteren verwendet hat.

Dabei hat das Verkleiden in Amerika Hochkonjunktur. Laut des jährlichen Berichts der "National Retail Federation" gaben die Amerikaner 2016 alleine an Halloween 3,1 Milliarden US-Dollar nur für Kostüme aus. Das sei das höchste Ergebnis seit Beginn der Aufzeichnungen. Doch in Zeiten von Online-Shopping und fertigen Kostümen in jeder zweiten Supermarktfiliale ist das Geschäft mit maßgeschneiderten Kostümen zur Kunst geworden.

„Ich konnte niemanden finden, der so ist wie ich.“ Das ist ein zweiter Satz, den sie dieser Tage häufig sagt. Wie sie. Das wäre jemand, der sein gesamtes Leben einem Kostümladen widmen würden.

Dem Kostümladen.

Denn „Helen’s Pacific Costumers“ im Nordosten Portlands hat nicht nur 127 Jahre auf seinem Rücken. Er hat mehrere Auszeichnungen gewonnen. Er ist von herausragender Bedeutung für zahlreiche Laien- und Schultheater, die einen besonderen Rabatt bekommen. Für die Oregon State Parks, die der Laden mit Junior Ranger Bibermaskottchen versorgt. Für Einzelpersonen, die ein einzigartiges Kostüm brauchen – in letzter Zeit vor allem für Kostümhochzeiten.

Der Laden ist Teil von Portlands Geschichte.

Er ist viele Teile von Pam Monettes Geschichte. Immerhin hat die Künstlerin, die zwischenzeitlich als Straßenmeisterin oder als Türsteherin in Portlands erstem Transvestiten-Club gearbeitet hat, zwei Drittel ihres Lebens hier verbracht. Hier, in einer Welt aus raffinieren Renaissance-Kleidern, Mary-Poppins-Regenschirmen und Harlekin-Jackets. Aus Zauberhüten, Robin-Hood-Schuhen und Hasen-Köpfen.

Ein Werk des Zufalls

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„Es gibt nichts Neues. Alles kommt wieder, wenn man nur lange genug darauf wartet.“ Das ist ein Satz, den die frühere Besitzerin Helen Learman oft gesagt hat.

Es war Zufall, der Pam und die Learmans zusammengebracht hat. Vor rund 50 Jahren, als Pam Monette in ihren 20ern war und noch im Lebensmittelladen ihres Mannes mithalf.

Die Mikrowellen waren gerade auf den Markt gekommen, aber die Menschen trauten dem neuen Gerät noch nicht so recht. Um ihre Zweifel zu nehmen, eröffnete Pam Monette mitten im Geschäft eine Burgerbar. Sie erhitzte das tiefgefrorene Fleisch vor den Augen der Menschen in der Mikrowelle – und servierte es ihnen. Dabei wurden Al und Helen Learman auf sie aufmerksam. „Sie fanden mich einfach fantastisch“, sagt Pam und lächelt bei der Erinnerung. Also begannen die Learmans viel Zeit mit Pam zu verbringen. Und bevor sie es realisierte, arbeitete sie im Geschäft mit.

Auf die Künstlerin übte die Fantasiewelt des Kostümladens eine natürliche Anziehungskraft aus. Und so lehrte Helen ihr alles, was sie wissen musste, um den Laden leiten zu können. Als zuerst Al und später Helen starb, war es nur natürlich, dass Pam das Geschäft erbte.

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Dies machte sie zur vierten weiblichen Geschäftsführerin. Das Unternehmen war durchwegs in Frauenhand gewesen. Schneidern ist nun einmal ein weibliches Geschäft, räumt Pam ein. Dennoch, es ist eine Errungenschaft.

Der Name hat sich im Laufe der Jahre geändert. Ursprünglich hieß der Laden „Wonder Costumes". Weil es Ellen Mary „Großmutter“ Wonders war, die das Unternehmen 1890 gegründet hatte. Sie und ihr Ehemann Fred stellten Kostüme und Floße für das jährliche Rose-Festvial her, das jeden Juni stattfindet.

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Die Skizzen der Floße und Kleider sind immer noch im Kostümladen zu finden. Tatsächlich bewundert Rose-Mary Harmann – ehemalige Mitbewohnerin von Pam und aktuelle Aushilfskraft – gerade einige von ihnen. „Sehen sie nicht toll aus?“, fragt sie die zwölfjährige Emaya, Pams Enkelin, und deutet auf ein Blumenkleid in einem der Skizzenbücher, die sie beim Aufräumen gefunden hat.

Aufräumen, einräumen, wegpacken. Das sind derzeit die Haupttätigkeiten der Mitarbeiter und freiwilligen Helfer.

Sallys Plan

Die Türglocke läutet nur mehr selten. Als sie nun tut, tritt ein Kostümdesigner, Mitte 20, über die Schwelle. „Oh, Sally, vielen Dank“, sagt er an die Verkaufsleiterin gewandt, die hinter dem Tresen an ihrem Computer sitzt. Die Frau mit dem strengen Dutt und den Katzenaugen-Brillengläsern sieht auf und lächelt.

„Es war perfekt, wie immer“, fährt der Kostümdesigner fort, während er die Kleider und Kostüme, die er für eine Mary-Poppins-Show benötigt hat, auf dem Tresen ablädt. Mit einem Budget von 500 Dollar wäre es unmöglich, Kostüme für 74 Personen zu besorgen – wenn da nicht Helen’s Kostümladen wäre. „Ich weiß nicht, was ich ohne euch tun werde“, sagt er.

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Vielleicht kommt es nicht soweit.

Von dem Augenblick an, als die Verkaufsleiterin von Pams Plänen erfuhr, legte sie den dritten Gang ein. Sie versuchte einen Käufer zu finden, die Community zu mobilisieren, eine Non-Profit-Organisation auf die Beine zu stellen und Geld zu sammeln.

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Obwohl ihr immer wieder Steine in den Weg gelegt wurden, hat Sally Newman die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Möglicherweise gibt es da eine Person, die eine Lagerhalle zur Verfügung stellen könnte. Mit genug Freiwilligen und einer Portion Glück, müssen die Kostüme vielleicht doch nicht einzeln verkauft werden.„Ich schicke heute noch einen Newsletter raus. Es wäre toll, wenn du ihn weiterleiten könntest“, sagt sie, als sich der Kostümdesigner zum Gehen wendet. In Sallys Augen spiegelt sich eine Mischung aus Zweifel und Hoffnung, als sie die Tür hinter im schließt.

Im Atelier hört sie Gina Pawers an dem Bibermaskottchen arbeiten. Er wird voraussichtlich am 29. August fertig sein. Zwei Tage vor der Schließung.

Was, wenn es doch nicht der letzte Biber wäre?

Dieser Artikel ist während der FJUM Transatlantic Storytelling Summerschool in Portland, Oregon, entstanden.

Portland ist mit knapp 640.000 Einwohnern die größte Stadt im Bundesstaat Oregon. Wenn man das Einzugsgebiet mit einrechnet, sind es fast zwei Millionen Einwohner. Die Stadt hat in den jüngsten Jahren viel Zuzug erlebt. Das resultierte in teuren Wohnkosten und einer enorm hohen Obdachlosenquote. Portland gilt als liberale, grüne Stadt mit ausgedehntem Fahrradnetz und vielen Foodtrucks. Die Satire-Serie "Portlandia" spielt mit den Klischees der "Hipster-Stadt".

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