Chronik/Welt

Chaos-Jahre nach dem Kollaps

Die ersten, die gegen die territoriale Einheit der Sowjetunion aufmuckten, waren die Balten. Im Mai 1990 erklärten sich die drei Unionsrepubliken Estland, Lettland und Litauen für souverän, sie strichen die „Sozialistische Sowjetrepublik“ aus ihren Staatsnamen. Eine einseitige Erklärung. Es vergingen noch fast eineinhalb Jahre, bis der Kreml die Unabhängigkeit der drei Republiken anerkannte.

Bis zum Zerfall der UdSSR blieb alles beim Alten. So auch die Einreiseprozedur für Ausländer. Auf dem Luftweg war eine Einreise nur über Moskau möglich, denn im ganzen europäischen Teil der Sowjetunion gab es nur diesen einzigen internationalen Flughafen.

Um im November 1990 nach Estland zu gelangen, bedurfte es der Obhut des staatlichen Reiseveranstalters Inturist . Nach den Einreiseformalitäten in Moskau flog man fast 1000 Kilometer nach Westen, nach Tallinn.

Die estnische Metropole wirkte am wenigsten „sowjetisch“ unter allen Städten der UdSSR. Da die Balten erst 1940 unter die Knute der Diktatur des Proletariats geraten waren, war ihre Arbeitsproduktivität höher und die Bausubstanz der Stadt besser erhalten.

Das Wohlstandsgefälle war groß. Von einem Warenangebot wie in Tallinn aber wagte man in Russland nicht einmal zu träumen. Die mitgereiste russische Reiseleiterin, die auf die Wiener hätte aufpassen sollen, verschwand schnell in den Geschäften, um zu hamstern.

Ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für die Esten waren die Finnen, mit denen sie sich ohne Dolmetscher unterhalten können. Die sprachverwandten Nachbarn waren die ersten ausländischen Investoren.

Viele Finnen kamen auch per Schiff als Touristen. Die Überfahrt von Helsinki nach Tallinn dauert gerade einmal zwei Stunden. An Bord war Alkohol zollfrei zu haben. Da Wodka auch in Estland sehr billig war, tranken die meisten Finnen am Festland gleich weiter. Darunter auch würdige ältere Damen mit Perlenketten um den Hals, die durch ihre heftige Schlagseite stark auffielen.

 

Abkoppelung von Moskau

Am Stadtrand von Tallinn fielen wiederum viele sowjetischen Soldaten auf. In ihren Kasernen probten sie für die Parade zum 73. Jahrestag der großen sozialistischen Oktoberrevolution. Die Marine-Stützpunkte am finnischen Meerbusen waren für das sowjetische Militär von außerordentlicher strategischer Bedeutung. Vier Jahre später waren die Esten, Letten und Litauer daher sehr flott NATO-Mitglieder.

Die Abnabelung von Moskau dauerte in den anderen Nachfolgerepubliken viel länger, die vielseitigen Verflechtungen waren zu groß. Anfang 1992 versuchte man, einen einheitlichen militärischen Raum innerhalb der GUS zu erhalten.

Aber schon wenige Tage später leistete eine ukrainische Einheit nach der anderen ihren Eid auf die blau-gelbe ukrainische Fahne. In Kasachstan wurde die sowjetische Armee über Nacht zur kasachischen deklariert. Den Soldaten und Offizieren russischer Abstammung stand es frei, zu bleiben oder zu gehen. Ausrüstung und Kleidung der neuen Armeen wurden aus den Arsenalen der Roten Armee übernommen.

Ähnlich wurden die Bestände des staatlichen Monopolisten Aeroflot unter den UdSSR-Erben aufgeteilt. Jeder requirierte, was gerade auf seinem Flughafen stand. Die Maschinen der sowjetischen Airline wurden frisch gestrichen, neue Symbole aufgemalt und mit ihnen nationale Fluggesellschaften gegründet.

Vielerorts gab es zwar genügend Flugzeuge, aber kein Kerosin. Der Flugverkehr innerhalb der Ex-UdSSR brach mit deren Zerfall völlig zusammen. Mit dem Ende der Planwirtschaft hörte auch die Zuteilung von Gütern auf. Ebenso endeten die Zeiten, als man alle Geschäfte mit der Sowjetunion – selbst jene, die etwa in Zentralasien realisiert wurden – in Moskau verhandelte.

Die Aserbaidschaner mit ihren riesigen Ölquellen im Kaspischen Meer hatten genug Treibstoff. So hatte die Wirtschaftskammer Österreich im Frühling 1994 eine Chartermaschine aus Baku nach Kiew bestellt, um heimische Wirtschaftstreibende abzuholen, die Geschäfte anbahnen wollten. Bis Kiew war die AUA geflogen.

 

Schreie gegen Kakerlaken

Unter den Osthandel-Veteranen saßen auch Neulinge an Bord, denen die Angst vor dem wilden Osten ins Gesicht geschrieben stand. „Die Kakerlaken sind geräuschempfindlich, beim Zimmer-Betreten laut schreien!“, lautete ein Rat der erfahrenen Kollegen an die Neulinge. Im Hotel angekommen, hallte es aus allen Gängen.

Am Markt von Baku türmten sich – von Fliegen umschwärmt – Berge von schwarzem Kaviar. Die frischen Fischeier wurden in offene Einmachgläser portioniert. Die Uferpromenade war von Erdöl umspült, eine offensichtlich undichte Pipeline war der Verursacher.

Viele Industriebetriebe waren in desolatem Zustand. Die aserbaidschanischen Direktoren hätten alles, was die Österreicher ihnen anboten, sehr gut brauchen können. Sie hatten aber überhaupt keine Devisen. Deshalb wurden nur Kompensations-Geschäfte abgeschlossen, etwa Produktionsanlagen im Tausch gegen Stahl oder Agrarprodukte.

Der inflationäre Rubel war abgeschafft, die nationalen Währungen waren nichts wert, die heimliche Währung im post-sowjetischen Raum hieß Dollar. Und bei der Beschaffung der begehrten grünen US-Noten kannte man keinen Genierer.

Als die österreichische Wirtschaftsmission aus dem turkmenischen Aschchabad abfliegen wollte, blieb die Türe an der bereits abgefertigten Maschine offen. Die Türe konnte nicht geschlossen werden, da die Gangway am Flugzeug stehen geblieben war. Auf dem Rollfeld aber war weit und breit keine Menschenseele mehr zu sehen.

Erst als die Österreicher an Bord eine Dollar-Kollekte durchführten und einer der Geschäftsmänner das Plastiksackerl voll Geld im Tower deponierte, wurde die Stiege weggeschoben, die Türe geschlossen – und das Flugzeug konnte starten.

Der Anfang der 1990er-Jahre

Schon zu Beginn des Jahres 1990 zeichnet sich der Zerfall der UdSSR klar ab. Litauen erklärt sich als erste Sowjet-Republik für unabhängig. Bis Ende des Jahres folgen alle weiteren. Dabei stimmen in einem von Michail Gorbatschow initiierten Referendum mehr als 70 Prozent für eine erneuerte Sowjetunion.

Der August-Putsch 1991 von Hardlinern gegen Gorbatschow kurz vor Unterzeichnung des neuen Unionsvertrages scheitert an mangelnder Unterstützung der Armee und am Widerstand der Demonstranten in Moskau und Leningrad unter Führung von Boris Jelzin.

Am 21. Dezember 1991 beschließen elf anwesende Sowjetrepubliken in Alma Ata die Auflösung der Sowjetunion. Gorbatschow wird abgesetzt, vier Tage später tritt er als sowjetischer Präsident zurück. Russland tritt das gesamte Erbe der Sowjetunion an: Es übernimmt den UNO-Sitz sowie alle diplomatischen Vertretungen und sämtliche Staatsschulden. Somit steht Russland mit etwa 320 Milliarden D-Mark beim Ausland in der Kreide. Am Silvestertag 1991 tritt die Auflösung der UdSSR in Kraft. Jelzin wird erster Präsident des unabhängigen Russland.