Chronik

Pflegeskandal: "Wir sind völlig fassungslos"

Mittwochmittag in der kleinen Gemeinde Kirchstetten in Niederösterreich. Es herrscht ein Kommen und Gehen im Pflegeheim Clementinum, die Gesichter vieler Menschen sind ernst. Jeder weiß mittlerweile, dass es in dieser Anstalt zu grauenhaften Vorfällen gekommen sein soll."Es war ein Schock, als meine Frau und ich die Nachrichten im ORF sahen. Wir waren völlig fassungslos", sagt Gernot Timmermann.

Das Ehepaar ist gerade auf dem Weg, um den Bruder der Frau zu besuchen, der seit Jahren in dem Privatheim untergebracht ist. "Ich möchte betonen, dass wir mit der Betreuung sehr zufrieden sind und auch weiterhin den Mitarbeitern vertrauen werden. Schwarze Schafe kann es leider überall geben", meint Timmermann.

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Bei den "schwarzen Schafen" handelt es sich um vier Mitarbeiter des Heims, die mit schweren Vorwürfen konfrontiert sind. Die Männer und Frauen sollen hilflose Bewohner auf grauenvolle Art und Weise gequält und erniedrigt haben.Einer Frau sei etwa mit den Worten, dass sie stinke, Haarspray ins Gesicht und in den Mund gesprüht worden. Einer weiteren Bewohnerin, so der Vorwurf, soll Kot in den Mund gestopft worden sein. Und unter "Aromapflege" hätten Pfleger das Verreiben von scharfem, ätherischem Alkohol in Augen und Genitalien verstanden.Das Perfide daran: Bei den Opfern soll es sich um besonders pflegebedürftige Personen handeln, die nicht selbst äußerungsfähig sind und deshalb nicht aus eigener Kraft um Hilfe rufen können.

Kripo ermittelt

Als am vergangenen Freitag die Heimleitung von einem der knapp 90 Mitarbeiter über den Verdacht informiert wurde, reagierten dieses umgehend und offensiv. Die Beschuldigten, die laut Heim-Sprecher Christian Zwittnig teilweise noch am vergangenen Wochenende zum Dienst angetreten wären, wurden fristlos entlassen und eine Sachverhaltsdarstellung an die Polizei geschickt.

Bei den Verdächtigen soll es sich um Personen handeln, die über unterschiedliche Ausbildungsniveaus verfügen. "Hier hat sich sozusagen eine Gruppe gefunden", sagt Zwittnig.

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Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft St. Pölten wegen Quälens oder Vernachlässigung wehrloser Personen. Bei der Kripo wird betont, dass die Beschuldigten erst einvernommen werden müssen: "Anfang kommender Woche erhoffen wir uns neue Erkenntnisse", sagt die Erste Staatsanwältin Michaela Obenaus.

Kontrolle

Patientenanwalt Gerald Bachinger zeigt sich schockiert: "Ich habe so etwas in den vergangenen 15 Jahren noch nicht erlebt. Wir haben ein sehr engmaschiges Kontrollnetz. Jetzt müssen wir versuchen, aus möglichen Fehlern für die Zukunft zu lernen." Deshalb sei es jetzt auch wichtig, eine Ursachenanalyse durchzuführen.Bestürzung herrscht auch beim Land, das in unregelmäßigen Abständen Kontrollen in den 98 nö. Heimen durchführt. "Es hat den Anschein, als würde hinter der Tat kriminelle Energie stecken", sagt Severin Nagelhofer von der Abteilung Landeskrankenanstalten und Landesheime. Auch ihm sei ein derartiger Fall noch nicht untergekommen.

Die Volksanwaltschaft ist eine von mehreren Institutionen, die für die Überprüfung der Alten- und Pflegeheime in Österreich zuständig ist. Von den mehr als 1200 Anstalten wurden heuer rund 100 überprüft.

„Ein Verbrechen wie dieses lässt sich aber leider auch durch Kontrollen nicht verhindern“, betont Volksanwalt Günther Kräuter (SPÖ) im Gespräch mit dem KURIER. Ansetzen müssen man am Ursprung solcher Taten, meint der Experte. „Ich denke, dass es etwa in der Ausbildung noch Verbesserungsmöglichkeiten gibt. Man sollte zum Beispiel noch stärker auf das Thema Gewaltprävention eingehen.“

Burn-out-Rate

Der Pflegeberuf selbst gehöre zu einem der herausforderndsten Jobs überhaupt, sagt Kräuter: „Wir bemerken eine sehr hohe Burn-out-Rate in diesem Bereich. In manchen Institutionen herrscht leider auch Personalknappheit. Mit diesem Mangel werden wir auch immer wieder konfrontiert“, berichtet der Volksanwalt. Er fügt aber hinzu, dass das in die Schlagzeilen geratene Pflegeheim in Kirchstetten über ausreichend Personal verfügen würde.

Der Experte wünscht sich zudem, dass die Pfleger mehr Möglichkeiten bekommen, um die Erlebnisse und Herausforderungen in ihrem Beruf verarbeiten zu können. „Wir brauchen mehr Supervision“, sagt er. Bei dieser Form der Beratung von Mitarbeitern (vor allem in psychosozialen Berufen) ist ein zentrales Element die Reflexion.
Einmal mehr lässt Günther Kräuter zudem die Forderung laut werden, dass der Volksanwaltschaft die Möglichkeit gegeben werden soll, dem Niederösterreichischen Landtag „direkt zu berichten“. „In anderen Bundesländern – wie etwa in Wien – ist dies möglich. In Niederösterreich hingegen leider noch nicht.“