Chronik/Österreich

Warum so viele Tschetschenen in den Dschihad ziehen

Innenministerin Johanna Mikl-Leitner warnte am Freitag mit eiserner Miene: Dschihadisten des "Islamischen Staates" (IS) in Syrien und im Irak hätten steigenden Zulauf aus Österreich. Sie revidierte die Zahl an Gotteskriegern made in Austria von 100 auf 130. Viele seien "russische Staatsbürger". Gemeint waren Tschetschenen.

Zwar ziehen europaweit fanatisierte, junge Männer und zunehmend auch Frauen in den Heiligen Krieg. Aus Österreich reisen laut Verfassungsschutz aber auffällig viele Tschetschenen in den "Islamischen Staat". Wie jene zehn (darunter ein Österreicher), die am Mittwoch vor dem Grenzübertritt festgenommen wurden und von denen neun nun in U-Haft sind. In Graz war ein tschetschenischer Prediger im Visier der Verfassungsschützer, der acht Kaukasier für den Syrien-Krieg angeworben haben soll. Zuvor wurde am Bezirksgericht Hietzing der 32-jährige Hasan B. für tot erklärt – geboren in Argun, Tschetschenien, wohnhaft in Wien, verstorben in Aleppo, Syrien. Der deutsche Nahost-Experte Guido Steinberg fragte jüngst in einem Essay, ob "eine tschetschenische El Kaida" entstehe.

Österreich als Diaspora-Zentrum

Zwei Kriege zwangen viele Tschetschenen zur Flucht. Österreich wurde zu einem Zentrum ihrer Diaspora: Laut Schätzungen leben 26.000 Menschen aus der autonomen russischen Republik hier. Die Zeiten, in denen noch fast 90 Prozent der Antragsteller Asyl bekamen, sind vorbei. Die Quote sank kontinuierlich.

Warum zieht der IS ausgerechnet Tschetschenen aus Wien oder Graz an? Die Meldung über die verhafteten Dschihad-Touristen wunderte Siegfried Stupnig nicht. "Das Problem ist längst bekannt." Es seien "die Spätfolgen der Tschetschenien-Kriege". Der Kärntner Traumapsychologe spannt den Bogen von der einst nationalistisch geprägten Unabhängigkeitsbewegung bis zum Erstarken einer wahhabitischen Strömung in Tschetschenien. "Es wuchs eine neue Generation heran, die gar keine Chance hatte, sich zu bilden." In der Hauptstadt Grosny lagen Schulen in Schutt und Asche.

Stupnig zeichnet ein heterogenes Bild der heimischen Community. Die meisten seien "liberal bis traditionell" und fürchteten die radikale Strömung, der einer Studie der Uni Wien zufolge nur drei Prozent angehören. Viele kämen erst hier in Kontakt mit radikalem Gedankengut. Etwa eine junge Frau, die ihre Kleider gegen einen Ganzkörperschleier tauschte und ihre Eltern verschreckte. "Wir haben Angst um unsere Kultur", hört Stupnig oft.

Verschleppte Väter

Wer die Situation dieser Flüchtlinge verstehen will, muss den "Rucksack" aufschnüren, der ihnen aufgebürdet wurde. Der Krieg hat laut Stupnig "einen Grundstein für die Radikalisierung gelegt". Das letzte Bild von Vätern sei oft jenes, wie sie verschleppt wurden. "Viele plagen Rachegefühle für den Vater", erzählt Stupnig. Dazu kämen soziale Probleme, Identitätskrisen und die "Macht des Internets".

Sonja Brauner vom Verein Hemayat arbeitet als Psychotherapeutin daran, dass die brutalen Bilder verblassen. "Gewalterfahrungen und Traumata" plagen ihre Klienten. Sie erzählt von einem jungen Mann, der zu Silvester durchdrehte, weil ringsum Raketen knallten. Eine rasche Therapie, die geboten sei, scheitert an fehlenden Mitteln.

Brauner mahnt ein, trotz individueller Probleme "die lange Zeit verfehlte Asyl- und Integrationspolitik" im Blick zu haben. Flüchtlinge stecken "in einem langen Asylverfahren, in Orientierungslosigkeit" und "erfahren Ablehnung". Einzelne sind in so einer Situation mit Heilsversprechungen leicht zu ködern.

Von Moderaten wie Huseyn Ishanov von der "Vereinigung der demokratischen Tschetschenen in Österreich" ist derzeit selten die Rede. Er appelliert an Jugendliche, der IS-Propaganda nicht auf den Leim zu gehen. "So wird man nicht zum Helden."

Wir nehmen die Lage in Österreich seit Jahren sehr ernst", sagte der Generaldirektor für Öffentliche Sicherheit, Konrad Kogler, in der "ZIB 2" bezüglich einer möglichen von Dschihadisten ausgehenden Gefahr. In Österreich sind diese Woche bekanntlich neun Menschen verhaftet worden, die in den "Gotteskrieg" nach Syrien ziehen wollten. Man wisse, dass es sich um "eine sehr kleine Gruppe" handle, so Kogler, der Großteil der Muslime hierzulande führe ein "geordnetes" Leben und habe damit nichts zu tun.

Nach Angaben des Innenministeriums kämpfen bereits 130 Personen aus Österreich als Dschihadisten im Ausland, sind von dort zurückgekehrt oder auf dem Weg zu Kriegsschauplätzen. Bei den für eine Radikalisierung empfänglichen Muslimen handle es sich vorwiegend um junge Männer ohne Perspektiven. Man wolle eine "Hysterie" vermeiden, so Kogler. Bisherigen Erkenntnissen zufolge wisse man, dass es ein Netzwerk von Radikalisierten in Österreich gebe. Es bestehe aus "mehreren Zellen", die "nicht hierarchisch", aber "miteinander verwoben" seien, erklärte Kogler.

20 Spezialisten

Um diesen Gruppen auf die Schliche zu kommen, will Innenministerin Johanna Mikl-Leitner nun beim Verfassungsschutz 20 zusätzliche Spezialisten einstellen. Bis Ende nächster Woche soll geprüft werden, wo sie zum Einsatz kommen, die Auswahl soll ab September beginnen, so Mikl-Leitner am Samstag in einer Stellungnahme gegenüber der APA.

Die Ermittlungen zu den "Schleuserrouten" europäischer Dschihadisten nach Syrien und in den Irak will Mikl-Leitner gemeinsam mit Europol und Interpol vorantreiben. Aus "sicherheitstaktischen Gründen" nicht nennen will sie übrigens die Gesamtzahl der Verfassungsschützer.

Warnung vor Aufwiegelei

Nichts hält die Ministerin von Stimmen, man solle radikale Moslems doch ziehen lassen - das wäre aus ihrer Sicht "zynisch": "Österreich macht sich nicht zum Komplizen für künftige Terroristen und Mörder und winkt ihnen bei der Ausreise noch zu." Auch die Forderung der FPÖ, sämtliche in Österreich lebende Tschetschenen überprüfen zu lassen, lehnt sie ab: "Unser Kampf gilt nicht einer bestimmten Volksgruppe, Asylwerbern oder dem Islam - unser Kampf gilt den Dschihadisten." Außerdem warnt die Ministerin angesichts jüngster Übergriffe gegen Muslime - so wurden am Donnerstag in Wien zwei ältere Frauen mit Kopftuch von einem Unbekannten attackiert - alle "Populisten" vor Hetzerei und Aufwiegelei: "Diese Brandstifter machen sich mitschuldig, wenn es zu Übergriffen auf Unschuldige kommt."

Im Fall der zehn Festgenommenen ermitteln die Behörden wegen mehreren Straftatbeständen. Neben Mitgliedschaft und Finanzierung einer terroristischen Vereinigung geht es dabei auch um Sozialbetrug, um für den Kampfeinsatz die nötigen Mittel aufzutreiben. Auf die aktuellen Festnahmen folgen nun weitere Ermittlungen im Umfeld der Verdächtigen.