Chronik/Österreich

Volksanwalt Kräuter: "Gerade noch die Kurve gekratzt"

Volksanwalt Günther Kräuter (SPÖ) über aktuelle Menschenrechtsverletzungen in Österreich.

KURIER: Wien präsentiert sich als Stadt der Menschenrechte. Sie meinen, man habe da gerade noch die Kurve gekratzt.

Günther Kräuter: Was die Netzbetten - käfigartige Betten in denen Patienten eingesperrt werden – betrifft. Wien hat sich vor einigen Monaten doch durchgerungen, die Netzbetten mit nächstem Jahr abzuschaffen – allerdings erst nach massiver Kritik der Volksanwaltschaft und einem Ministeriumerlass. Daher ist die Anmerkung nicht falsch, dass die Kurve gekratzt wurde.

Hinken Wien und die Steiermark, wo es vereinzelt auch noch Netzbetten gibt, hinterher?

Das ist ja noch untertrieben. Das allererste, was man bei Gremien in Genf zu hören bekommt, wenn es um die Menschenrechte in Österreich geht, ist, dass es noch immer Netzbetten gibt. Da erntet man verständnisloses Kopfschütteln. Die Abschaffung ist nach allen einschlägigen Konventionen und internationalen Gepflogenheiten längst überfällig gewesen. Auch in Westösterreich sind Netzbetten seit vielen Jahren undenkbar, in Deutschland bestenfalls im Psychiatriemuseum zu bestaunen.

Seit 2012 darf die Volksanwaltschaft zum Schutz der Menschenrechte auch Pflegeheime und die Jugendhilfe prüfen.

Unangemeldet. Unsere Expertenkommissionen haben Akteneinsicht und können vertrauliche Gespräche mit Bewohnern, mit Pflegepersonal und mit der Leitung führen. Wir haben da sehr weitreichende Möglichkeiten.

Die Länder haben sich gegen die Prüfmöglichkeit der Heime durch die Volksanwaltschaft lange gewehrt.

Mag schon sein. Am Beginn gab es dort und da noch eine gewisse Bestemm-Haltung. Das hat sich wesentlich gebessert. Mittlerweile wird verstanden, dass die Volksanwaltschaft Hilfestellungen leistet, um Strukturveränderungen zu erleichtern. Das Projekt ist auf einem guten Weg.

Im Vorjahr stellten Sie nach wie vor Gewalt in Einrichtungen der Jugendhilfe fest.

Wien hat erfreulicherweise inzwischen alle Landesheime aufgelöst, Wohngruppen geschaffen und liegt mit zehn Jugendlichen pro Einrichtung als Richtwert sehr gut. Es gibt Bundesländer, die betreuen 16 Minderjährige gemeinsam, klarerweise steigt das Gefahrenpotenzial, je mehr Leute in einer Einrichtung untergebracht sind. In krassen Einzelfällen sind nach unseren Begutachtungen auch Betreuer abgezogen worden, die sich ganz unverblümt für Gewaltanwendung ausgesprochen haben. Prüfschwerpunkt ist nach wie vor Gewalt -auch sexuelle Gewalt – auch zwischen Jugendlichen. Das ist weiterhin ein wichtiges Thema für unsere Kommissionen. Gewalt zu verhindern, wird nie lückenlos möglich sein. Aber man muss Gefahrenpotenziale möglichst verringern.

Wie will man das umsetzen?

Durch verbesserte Ausbildung, externe Unterstützung bei Krisen, dem Ausbau der pädagogischen und psychologischen Möglichkeiten und Therapien. Es handelt sich meist um schwerst traumatisierte Jugendliche, die oft in der Kindheit Schlimmes mitgemacht haben. Wenn da auch Betreuer in Einzelfällen Gewalt anwenden, darf man sich nicht wundern, wenn die Jugendlichen dann später ihren Kindern wieder Gewalt antun. Diese entsetzliche Spirale müssen wir durchbrechen.

Sie kritisieren, dass der interne Bericht des KAV zur Problematik am Steinhof nicht veröffentlicht wird (siehe Zusatzbericht, Anm.).

In diesem sieben Seiten umfassenden Bericht finden wir nicht den geringsten Anhaltspunkt , der wegen Persönlichkeitsrechten problematisch wäre. Diese Argumentation ist nicht nachvollziehbar. Unsere Empfehlung ist es, den Bericht zu veröffentlichen – natürlich nicht die dahinterstehende Beilage, die Namen von Patienten enthält. Positiv anzurechnen ist, dass ein Gesamtprojekt mit umfassender Aufarbeitung entsteht.

Hinkt Österreich in Sachen Vergangenheitsbewältigung hinterher?

Das möchte ich nicht aus diesem Einzelfall ableiten. Das zu verallgemeinern, wäre nicht fair.

Es gibt weiterhin Verletzungen der Menschenwürde in öffentlichen Einrichtungen?

Unsere Kommissionen stoßen auf Situationen, die menschenrechtlich höchst problematisch sind. Wenn etwa Nachtruhe in einem Pflegeheim für betagte Personen um 16.30 Uhr vorgesehen ist. Oder Barrieren aller Art, wenn beispielsweise die Bewohnerin eines Heimes nicht ins Freie kommt, weil niemand für sie da ist. In einem anderen Fall werden Leute um 3.30 Uhr morgens geweckt, um gewaschen zu werden – da kann man mehr oder weniger von Gewalt sprechen. Fremdbestimmung führt weiter bis hin zur Sachwalterschaftsproblematik. In einer Gesellschaft, in der es viele betagte Menschen gibt – Tendenz steigend – muss man präventiv einwirken, dass Menschenrechtsverletzungen nicht zum Alltag, zur täglichen Praxis werden.

Haben Sie Hinweise auf Folter gefunden?

Glücklicherweise ist das in Österreich kaum bis gar nicht der Fall. In ganz extremen Einzelfällen ist das nicht auszuschließen. Die gesellschaftspolitische Aufgabe der Volksanwaltschaft ist, weiterhin präventiv dafür zu sorgen, dass Folter nicht entstehen kann. Wo immer Macht durch den Staat unmittelbar ausgeübt wird, ist das nie ganz auszuschließen.

Sie orten auch Missbrauch und Diskriminierung im Behindertenbereich?

Beispielsweise in Behindertenwerkstätten, wo es keine Sozial- und Pensionsversicherung gibt, nur ein Taschengeld. Das will die Regierung nun ändern. Da kommt man in menschenrechtliche Randbereiche und Grauzonen: Wenn erzielte Überschüsse in diesen Werkstätten nur unter den Schlüsselkräften verteilt werden, den Betreuern also, kann man sich fragen: Ist das letztlich sogar Ausbeutung? Es ist auf jeden Fall ganz klar ein Missbrauch.

Kritik gibt es auch am Asylwesen.

Bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Ich habe dazu ein amtliches Prüfverfahren eingeleitet. In diesem Bereich erklärt sich plötzlich niemand für zuständig. Schwer traumatisierten Jugendlichen, die vielleicht den Tod ihrer Eltern mit ansehen haben müssen, kann man nicht auf einmal sagen: „Für euch hamma nix.“

Sie fordern Arbeitserlaubnis für Asylwerber?

Darin sieht die Volksanwaltschaft ein Menschenrecht. Es gibt jetzt ernsthafte Bemühungen im Rahmen einer Arbeitsgruppe im Sozialministerium, um endlich eine Lösung zu erzielen.

Es gibt Vorwürfe aus betreuten Wohngemeinschaften, dass Kinder und Jugendliche nur unter Aufsicht mit ihren Eltern telefonieren dürfen.

Da ist sicher auch sehr problematisch. Kinder in der Fremdbestimmung haben Anspruch auf persönliche und telefonische Kontakte zu den Eltern. Intimsphäre, dazu gehören auch Telefonate mit den Eltern, ist auf jeden Fall ein Menschenrecht. Allerdings, in Einzelfällen, wenn etwa Eltern das Kindeswohl massiv gefährden, können Einschränkungen erforderlich sein.

Ihr Resümee zu Menschenrechten ?

In Österreich ist die Situation nicht nur negativ zu sehen, es gibt tausende Einrichtungen, wo man sich extrem bemüht, wo ein sehr hoher Qualitätsstandard erreicht ist. Aber es gibt es auch ernste Probleme, die zu lösen sind. Die Volksanwaltschaft wird sich verstärkt bemühen Best-Practice-Beispiele hervorzuheben. Es gibt Einrichtungen für Demenzkranke, die im Garten buchstäblich kleine Straßen mit Kreuzungen bauen, wo Sinne angeregt und Bewegungsdrang ausgelebt werden kann. Ein sehr beeindruckendes Beispiel im Umgang mit Betroffenen. Wir haben allzu oft als Prüfinstitution den Blick auf Probleme fokussiert, aber, es gibt auch sehr viel, das sehr gut funktioniert und wahnsinnig viele Leute, die sehr engagiert und unter Zeitdruck, Großartiges leisten.

Der Geheimhaltung wurden der Wiener Krankenanstaltenverband (KAV) und die zuständige Stadträtin Sonja Wehsely (SPÖ) bezichtigt. Der Grund dafür: Der interne Bericht des KAV über die Zustände in der Pflegeabteilung der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Wiener Otto-Wagner-Spital Anfang der 1980er-Jahre.

Wie berichtet, hat eine ehemalige Krankenschwester im Jahr 2013 über Folter-ähnliche Methoden berichtet. Ein ehemaliger Mitarbeiter der Pathologie erzählte im KURIER von toten Kindern, die vollkommen unterernährt auf seinem Tisch gelandet seien.

Bisher wurde nur eine interne Untersuchung des KAV durchgeführt, was zu einem elfseitigen Bericht führte, der nach wie vor nicht veröffentlicht wurde. Die Stadt Wien will die Causa aber detailliert aufarbeiten lassen: Noch heuer soll ein externes Experten-Komitee präsentiert werden, das die Vergangenheit penibel durchleuchtet, heißt es aus dem Büro Wehsely.