Chronik/Österreich

Ungebetene Doppelstaatsbürger

Ibrahim Olgun, Präsident der islamischen Glaubensgemeinschaft, wunderte sich vergangene Woche über Außenminister Sebastian Kurz. Mit seiner Botschaft an Erdogan-Anhänger – "wer die türkische Staatsbürgerschaft annimmt, verliert die österreichische" – habe er nichts Neues gesagt. "Das sei allen Betroffenen in Österreich klar", sagte Olgun gegenüber Ö1.

Doch so klar dürfte das nicht allen sein. "Ich weiß nur, dass es viele Türken in Österreich gibt, die Doppelstaatsbürger sind."

Dieser Satz stammt nicht von einem österreichischen Politiker. Er findet sich im Urteil des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich vom 16. Juni 2015, zu Protokoll gegeben von einer Türkin, die wegen ihrer Doppelstaatsbürgerschaft den österreichischen Pass abgeben musste (siehe Faksimile).

Die Frau ist in Österreich kein Einzelfall. Dem KURIER liegen mehrere Urteile vor, mit denen der Verlust der österreichischen Reisepasses ausgesprochen wurde, weil den Behörden durch Zufall eine Doppelstaatsbürgerschaft bekannt wurde.

Nach 20 Jahren entdeckt

Das zeigt ein Fall, der zu Jahresbeginn vom Landesverwaltungsgericht Oberösterreich entschieden wurde. Ein gebürtiger Türke, dem im November 1995 die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen wurde, musste diese nach 20 Jahren wieder abgeben. Denn als im Vorjahr dessen Mutter bei der Österreichischen Botschaft in Ankara um eine Niederlassungsbewilligung in Österreich ansuchte, legte sie einen Auszug aus dem türkischen Familienregister vor. Die Wirkung war fatal. Denn die türkischen Behörden hatten darin nicht nur den Austritt des Sohnes aus der Türkei (Jänner 1996), sondern auch seine Wiedereinbürgerung (Oktober 1996) dokumentiert. Die Beteuerungen des Mannes, er habe in der Türkei nie einen Antrag gestellt, half ihm nicht. "Die Wiederaufnahme der türkischen Staatsangehörigkeit konnte vom Betreffenden nicht widerlegt werden", urteilte das Gericht.

Kurios auch ein Fall, der im April vom Tiroler Landesverwaltungsgerichtshof beendet wurde. Ein junger Türke, dessen Familie 1999 in Österreich eingebürgert wurde, stolperte ebenfalls über einen türkischen Personenstandsregisterauszug. Darin war eine Wiedereinbürgerung im Jahr 2001 ausgewiesen. Die Sache flog übrigens erst jetzt auf, als der Mann seine türkische Ehefrau nach Tirol holen wollte.

Wie viele illegale Doppelstaatsbürger es tatsächlich gibt, ist unklar. 2014 geisterte die Zahl 80.000 durch den medialen Blätterwald. Fragwürdig ist die Quelle jedenfalls, denn es soll sich um namentlich unbekannte "türkische Statistiker" handeln, die das erhoben hätten.

Mangelware: Zahlen

Eine Recherche gestaltet sich schwierig. Denn heimische Behörden wissen wenig über Doppelstaatsbürger – oder sie wollen es gar nicht wissen. Ein erster Versuch – ein Anruf bei der zuständigen Abteilung des Landes Niederösterreich. Wie oft keimt der Verdacht auf? Wie gehen die Verfahren aus? "Die Zahlen sind nicht abrufbar", heißt es.

Ein zweiter Versuch, eine andere Behörde, ein anderes EDV-Programm. In der MA 35 in Wien, zuständig für die Verleihung und den Entzug der Staatsbürgerschaft, werden in einer Statistik "Feststellungsverfahren" geführt. Ein Überbegriff für zwei Sachverhalte: Entweder Personen wollen per Antrag festgestellt haben, ob sie Österreicher sind. Oder die Behörde vermutet, es liegt eine verbotene, zweite Staatsbürgerschaft vor. Eine Aufschlüsselung in beide Sachverhalte "wird nicht erhoben", sagt Barbara Reinwein von der MA 35. Im Vorjahr gingen 397 der Feststellungen negativ aus. Das sei "nicht aussagekräftig", warnt Reinwein im Hinblick auf die österreichweite Diskussion. Die Zahl von 80.000 ist es auch nicht.

Interview mit dem Soziologen Kenan Güngör

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Der Soziologe Kenan Güngör spricht über Staatsbürgerschaft als Integrationsfaktor und "Künstliche Verfremdung von hier Geborenen"

KURIER: Welche Rolle spielt die Staatsbürgerschaft für eine gelungene Integration?
Kenan Güngör: Erstens sind damit Rechte verbunden. Zweitens hat sie eine emotionale Dimension: Ich nehme Abschied und wende mich Neuem zu. Wesentlich ist der politische Beitrag. Die Menschen können wählen und werden als Wählergruppe von der Politik ernst genommen.

Die Politik neigt dazu, bei Problemen wegzuschauen. Wieso?
Das Negative daran ist, dass die Menschen auf der Ebene der Identität angesprochen werden – als Kroaten oder Türken. Natürlich will die Politik diese Wähler nicht verprellen und spricht Konfliktfelder nicht an.

Wer hierzulande geboren wird, erhält die Staatsbürgerschaft der Eltern. Ein fatales Signal?
Das ist eine künstliche Verfremdung von hier geborenen Kindern. Wir sollten das Gegenteil tun, Nähe aufbauen. Gleichzeitig ist der Erwerb der Staatsbürgerschaft ein Demütigungsritual: Die Auflagen, die Selektion lassen die Menschen spüren: „Wir wollen dich nicht“.

Hat die Heimatverbundenheit vieler Migranten nationalistische oder praktische Gründe?
Das können pragmatische Gründe sein, etwa weil der Staatsbürgerschaftserwerb zu viel kostet. Dann wäre die Frage, ob emotional-nostalgische oder nationalistisch-chauvinistische Gründe hier eine Rolle spielen.

Worin liegt der Unterschied?
Wir müssen weg von dieser Entweder-Oder-Identität, „Bist du Österreicher oder Türke?“. Wenn wir fragen, mit wem bist du wie stark verbunden, kommen wir zu einer Sowohl-als-auch-Identität. Wir leben in einer transnationalen Welt, in der es eine mehrfache Verbundenheit gibt. Wer versucht, eine emotionale Bindung zu verordnen, erreicht meistens das Gegenteil. Eine andere Frage ist die nach der Qualität der Verbundenheit: Das kann auch abgrenzender Nationalismus sein.

Was heißt es für Sie, wenn Menschen, die die Vorzüge eines Rechtsstaats genießen, für Erdogan auf die Straße gehen?
Dass Menschen nach einem Putschversuch auf die Straße gehen, ist soziologisch normal. Auslandsösterreicher würden nicht anders reagieren. Wenn dies zu einer nationalistischen, islamistischen oder antidemokratischen Machtdemonstration verkommt, ist das ein Problem.

Sehen Sie Interventionsbedarf?
Man kann die Art der Demonstration ernsthaft kritisieren. Das ist aber eine politische Diskussion und keine, die das Demonstrationsrecht infrage stellt. Wir müssen auf die Verhältnismäßigkeit der Reaktionen achten. Sonst gelangen wir in jene Unverhältnismäßigkeit, die wir in der Türkei kritisieren