Chronik/Österreich

"Serienkiller sind unmenschlich"

Ein paar Stunden oder Tage im Hotel: Die braucht Helen Morrison, forensische Psychiaterin aus Chicago, um Abstand zum „Abgrund“ zu gewinnen, in den sie gerade geblickt hat. „Ich kann nach einem Tag mit einem Killer nie gleich zu meiner Familie fahren und Abendessen kochen. Ich muss mich an einen Ort zurückziehen, wo all diese Gefühle von Angst weggehen.“ In den vergangenen 40 Jahren hat sie 135 Serienmörder getroffen, mit ihnen unzählige Stunden verbracht, ihre grausamsten Gedanken kennengelernt. Von einem der Täter besitzt sie sogar dessen Gehirn. Morrison ist auf der Suche nach dem Ursprung des Bösen.

Anlässlich der Filmpremiere der österreichischen Dokumentation „Blick in den Abgrund“ (siehe Filmtipp) traf der KURIER sie zum gemeinsamen Besuch im Wiener Kriminalmuseum. Danach hielt sie einen Vortrag an der MedUni Wien. Der Andrang war so groß, dass die Zuhörer auf dem Boden sitzen mussten. Morrison gab Einblicke in die bizarre Welt von Serienmördern und erklärte, warum sie so schwer zu fassen sind. Dabei unterscheidet sie zunächst Serienmörder von Massenmördern. „Die USA sind voll von Massenmördern, da schießt ständig jemand um sich. Doch ein Serienmörder besitzt keine Menschlichkeit. Er hat keine Empathie, versteht nicht, was sein Opfer durchmacht.“

Gleichzeitig wären Serienmörder charmante, sympathische Menschen, denen jeder traut. „Jack Unterweger ist ein perfektes Beispiel. Er wurde im Gefängnis so beliebt, dass man ihn frei ließ. Doch wer einen Serienmörder gehen lässt, ist für jeden weiteren Todesfall verantwortlich, den er verüben wird.“ Unterweger bot der Polizei sogar seine Hilfe an, als die Prostituiertenmorde nach seiner Freilassung erneut begannen.

Kurzschlussaktion

Viele Serienmörder haben ein normales Leben, eine Frau, eine Familie. Ihre Taten sind ungeplante Kurzschlussaktionen. „Es ist ein plötzlicher Gedanke – einer hatte gerade sein Essen in den Ofen geschoben, als er hinausging und eine Prostituierte umbrachte. Als er zurückkam, war er verwundert, dass das Essen verbrannt war.“

Auch die Familien ahnen nichts von der versteckten dunklen Seite. John Wayne Gacy, der 33 Leichen von jugendlichen Männern unter seinem Haus vergraben hatte, erklärte seiner Frau, dass der Gestank von Mäusen käme. Sie glaubte ihm.

Was die Fahndung nach Serienmördern schwierig macht, ist das fehlende Motiv. „Es gibt keines. Sie sind keine Frauenhasser, sie haben kein Mutterproblem, sie gewinnen keine Lust daraus. Sie empfinden absolut nichts“, sagt Morrison. Fest steht nur, dass die Opfer einander immer gleichen – häufig sind es Jugendliche, die von daheim weggelaufen sind, oder Prostituierte. Menschen, die keiner vermissen würde. Der grausamste Mörder war laut Morrison Robert Berdella. Er hat in den 1980er-Jahren mindestens sechs Männer in sein Haus gelockt, unter Drogen gesetzt und wochenlang grausam gefoltert. „Er hat alle Körperreaktionen seiner Opfer akribisch dokumentiert. Sie waren komplett seiner Gnade ausgeliefert, sie zu töten.“

Was Menschen dazu bewegt, solche Taten zu begehen, ist Gegenstand der Forschung. In Fachkreisen ist man sich einig, dass die Täter nie über die frühe orale Phase (nach Sigmund Freud bei etwa 18 Monaten) hinausgekommen sind. „Sie erkennen keine Individualität und haben auch keine Angst vor Verlusten. Sie sehen sich als Mittelpunkt der Erde.“

Mord, Vergewaltigung, Totschlag. Die österreichische Filmemacherin Barbara Eder porträtiert in „Blick in den Abgrund“ (ab heute im Kino zu sehen) sechs internationale Profiler, Forensiker und Psychiater bei ihrer Arbeit – darunter auch Helen Morrison (siehe oben). Nicht die Täter und ihre grausamen Verbrechen stehen hier im Vordergrund, sondern die Kriminalisten und ihr Umgang mit dem täglichen Schrecken der menschlichen Abgründe.
Helinä Häkkänen-Nyholm, eine der Porträtierten, erklärt im Film: „Freude und Glück hat man bei dieser Arbeit selten.“ Es sei durchaus möglich, dass sie ein glücklicherer Mensch wäre, wäre sie nicht Profilerin. Nach Abschluss der Dreharbeiten kündigte Häkkänen-Nyholm ihren Job.
Die Faszination des Bösen hatte Regisseurin Eder zum Film inspiriert – doch die Dreharbeiten wurden auch ihr zeitweise zu viel. „Ich habe Dinge gesehen, die kann man sich nicht vorstellen.“