Seidl: "Im Keller geht man seinen Obsessionen nach"
Von Monika Payreder
Der eine sperrt seine eigene Tochter 24 Jahre lang in einer unterirdischen Wohnung ein, vergewaltigt sie hundert-, wenn nicht tausendfach und zeugt in der Tiefe insgesamt sieben Kinder mit ihr. Der andere entführt ein zehnjähriges Mädchen auf dem Schulweg und hält es mehr als acht Jahre gefangen. Und eine Dritte erschießt ihre Ehemänner im Schlaf beziehungsweise hinterrücks, zerstückelt die beiden Leichen mit einer Motorsäge und betoniert sie unter ihrem Eissalon ein.
Die Verbrechen des Josef Fritzl, des Wolfgang Priklopil und der Estibaliz Carranza haben Österreich und seine Keller weltweit in Verruf gebracht.
Die beiden Gemeinderäte sind mittlerweile zurückgetreten und der Nazi-Keller ist trotz allem weit entfernt von den Verbrechen von Fritzl, Priklopil oder Carranza – doch in den sozialen Medien tauchte umgehend die Frage auf: Was ist bloß los mit den Österreichern und ihren Kellern?
Ulrich Seidl: Nein. Schon bei der Arbeit zu meinem Film "Hundstage" habe ich festgestellt, dass die Österreicher in ihrer Freizeit gerne in den Keller gehen. Zum Teil sind diese unterirdischen Räume um einiges großzügiger als der Wohnbereich. Das hat mich neugierig gemacht, das war der Ansatz für den Film.
Und wieso erfreut sich der Keller hierzulande einer so hohen Beliebtheit?
Man geht in den Keller, um sich zu verwirklichen. Um sich selbst sein zu können.
Oder wie Herr O. im Film sagt: "Der Keller gehört mir alleine. Da kann ich tun, was ich will."
Ja. Dort unten geht man seinen Bedürfnissen nach, seinen Leidenschaften, seinen Obsessionen. Der Keller war und ist aber immer auch ein Ort der Finsternis und der Angst, ein Ort der Verbrechen. Er ist ein Symbol für ein Doppelleben und Abgründe.
Sind diese Abgründe in Österreich tiefer als anderswo?
Keller gibt es in ganz Mitteleuropa. Dass die schlimmsten Verbrechen, die man sich vorstellen kann, in Österreich waren, ist vielleicht einfach ein Zufall. Aber klarerweise wird jeder, der den Film sieht, an die Fälle Fritzl und Kampusch denken.
Erwin Ringel hat die österreichische Seele einmal als Zweizimmer-Wohnung beschrieben. In der hellen, freundlichen, schönen Stube empfange der Österreicher die Gäste. Das andere Zimmer ist finster, unzugänglich, völlig unergründlich. Ist der Keller dieses andere Zimmer?
Das Bild trifft es sehr gut, finde ich. Wenn jemand ein ganz normales Leben lebt, mit Nachbarn und allem, dann will er nicht herzeigen, was er da in seinem Keller so macht, weil das ist geheim.
Und trotzdem lassen sich Leute dann von Ihnen filmen, während sie unter einem Hitlerbild fröhliche Liedchen singen. Diese Leute finden offenbar nichts Anstößiges daran, nichts, was geheim bleiben müsste?
Diese Verharmlosung der Vergangenheit findet man allerorts in Österreich. Diese Szene aus dem Film hat ja jetzt auch nur so viel Staub aufgewirbelt, weil da zwei ÖVP-Politiker dabei waren. Die Szene ist aber nur ein Beispiel für vieles. Nicht jeder hat so einen Nazi-Keller, aber das Gedankengut ist da.
Warum noch immer?
Diese dunklen Seiten sind in uns allen angelegt, es kommt nur darauf an, wie man damit umgeht. Natürlich ist unsere Vergangenheit sehr problematisch, sie wurde lange Zeit nicht aufgearbeitet. Das hängt uns schon nach. Österreich galt lange als Opfer, das es natürlich nicht war, Österreich war Täter. Und dafür hat man sich später nie entschuldigt, da gab es keine richtige Wiedergutmachung, da wird immer noch vieles zugedeckt.
Und wer genug vom Zudecken hat, geht einfach wieder in den Keller ...
Es ist allen Menschen anheim, dass wir Abgründe in uns tragen. Der Keller ist ein Symbol für diese Abgründe. Man will sich vielleicht gar nicht vorstellen, was es da unten noch so alles gibt.