Rote Karte für Fußballfan-Paragrafen
Von Nihad Amara
Die Kamera am Wiener Westbahnhof lieferte nichtssagende Bilder: Eine Horde von Rapid-Fans fuhr die Rolltreppe hinauf und wenig später wieder hinunter. Die Körperverletzungen und Sachbeschädigungen, die später ein Staatsanwalt anklagen wird, wurden von ihnen nicht dokumentiert. Das brauchte es auch nicht, denn die Anklagebehörde machte großzügigen Gebrauch von einem beinahe universell einsetzbaren Paragrafen – Landfriedensbruch (§274 STGB). 75 Rapid-Fans wurden damals verurteilt – die meisten wegen Landfriedensbruch.
Einen "rechtspolitischen Wahnsinn" nennt das Werner Tomanek, der Anwalt mehrerer Rapid-Fans. "Ich war sprachlos." Der Paragraf ist ein Relikt im Strafgesetzbuch: Erfüllt ist er, wenn jemand "wissentlich" an einer Zusammenrottung teilnimmt, in deren Verlauf eine schwere Straftat passiert (siehe Infobox). Nicht die Tat entscheidet, sondern die Anwesenheit. Seine Wurzeln reichen bis ins 19. Jahrhundert und weiter zurück, als der "Landfriede" in Gefahr war.
Gesetzesreform
Der sogenannte "Westbahnhof-Prozess" ist kein Einzelfall. Gegen 517 Demonstranten gegen den FPÖ-Akademikerball zu Jahresbeginn liefen Ermittlungen wegen des Delikts. " Es besteht etwa ein erhöhtes Risiko für Personen, die an Demonstrationen teilnehmen", befürchtet Steinhauser. Am 23. Juli sitzen erneut 29 Rapid-Fans auf der Anklagebank, denen großteils Landfriedensbruch angelastet wird.
Strafrechtsprofessor Richard Soyer mahnt zu "großer Zurückhaltung" bei der Anwendung des Paragrafen, die er zuletzt als "irritierend" empfand. Er sei "grundsätzlich für eine solche Bestimmung. Das ist eine Grundfeste jeder Strafrechtsordnung". In einer funktionierenden Demokratie seien keine Umstürze zu fürchten. "Aber die Zeiten können sich auch ändern."
Tomanek warnt vor der "rechtsstaatlichen Grauzone" und bringt ein Beispiel: "Ich bin neugierig wie ein Hausmeister. Wenn sich bei einer Ansammlung was tut und Rapid-Fans dabei sind, die ich kenne, dann schaue ich mir das an – und bin schon verdächtig."
KURIER: Im Justizausschuss wurde Ihr Antrag, den Paragrafen Landfriedensbruch zu streichen, vertagt. Verschoben – oder doch eher gestorben?
Albert Steinhauser: Es gibt eine sehr konstruktive Debatte. Der Justizminister Wolfgang Brandstetter, die SPÖ, die Neos und auch die FPÖ sind sich des Problems bewusst. Im Zuge der Reform des Strafgesetzes wird das ein Thema.
Wie lautet Ihr Hauptkritikpunkt?
Das ist ein historischer Paragraf. Man muss nicht unmittelbar eine Straftat ausüben, sondern es genügt die Teilnahme an einer ,Zusammenrottung‘. Damit befindet man sich in einem rechtsstaatlichen Graubereich. Es besteht etwa ein erhöhtes Risiko für Personen, die an Demonstrationen teilnehmen. Das ist schlichtweg falsch. Es kann nicht darum gehen, Demonstranten zu kriminalisieren.
Bis vor einigen Jahren war das quasi totes Recht. Plötzlich wird der Paragraf rege angewandt.
Es gibt dafür keine Notwendigkeit, weil für es für Delikte wie etwa Körperverletzung oder Sachbeschädigung eine klare juristische Handhabe gibt. Der Paragraf wurde einfach wiederentdeckt. Er steht für die Tendenz, alles mit dem Strafrecht zu beantworten.
Historie
Die Wurzeln des Gesetzes reichen bis ins Mittelalter: Es begann mit der Regelung von Fehden bis hin zur konkreten Anwendung im Zuge der Märzrevolution von 1848, als damit revolutionäre Umstürze unterdrückt wurden.
Paragraf
Erfüllt ist der Tatbestand des § 274, wenn jemand "wissentlich" an einer "Zusammenrottung" teilnimmt, in deren Verlauf es zu schweren Gewalttaten kommt. Von 1974 bis 2003 gab es 23 Verurteilungen. 2012 waren es 75. Es drohen bis zu 3 Jahre Haft.