Popper: 900.000 zusätzliche Geimpfte und wir sind "sozusagen durch"
Die zuletzt etwas stabilisiert erscheinenden Neuinfektionszahlen dürften ein erstes Zwischenplateau in der Covid-19-Infektionslage darstellen. Das bedeute aber nicht, dass die Pandemie nun quasi von selbst abebben würde, sagte der Simulationsforscher Niki Popper zur APA. Auch beständig hohe Neuinfektionen ohne große Anstiege "können großen Schaden" auf stark belasteten Intensivstationen anrichten. Das sei bitter, weil zum echten Eindämmen nicht mehr viel fehle.
Beim Blick auf die Impfrate und die Anzahl jener Menschen, die durch eine durchgemachte Covid-19-Infektion weitestgehend von einer Neuinfektion geschützt sind, sehe man, "dass wir nicht weit davon entfernt wären, sozusagen durch zu sein. Wir müssen da nicht mehr Unglaubliches leisten", sagte Popper auf Basis von Modellrechnungen. Würden sich in Österreich noch 800.000 bis 900.000 Menschen zusätzlich impfen lassen, könne es voraussichtlich kaum mehr zu größeren Ausbrüchen kommen, die die Kapazitäten der Intensivstationen ernstlich gefährden.
Jüngere oft länger im Spital
Bleiben die Impfraten aber wie zuletzt niedrig, könnte es mit täglich identifizierten Neuinfektionszahlen um die 2.000 oder mehr noch länger weiter gehen. Die aktuelle Prognose geht von 300 bis 350 Covid-19-Intensivpatienten aus. Da nun auch vermehrt jüngere Menschen dort versorgt werden müssen, haben sich auch die Belegungszeiten verändert, zeitweise hatte sich die durchschnittliche Verbleibedauer im Krankenhaus im Sommer bereits auf bis zu drei bis vier Wochen verdoppelt. Jüngere Menschen haben zwar eine bessere Chance, eine schwere Infektion zu überstehen, benötigen dazu aber oft lange Intensivbetreuung.
Ein weiterer Anstieg nachgewiesener Neuinfektionen über längere Zeit sei natürlich nicht ausgeschlossen - mit entsprechenden weiteren Verschärfungen der Gesamtlage. Das hat mit dem noch bestehenden "Potenzial" an Infizierbaren zu tun und wie die weitere Netzwerkdynamik aussehen wird. Eine Frage sei, wie sich der Schulstart in den kommenden Wochen auswirken wird. Hier geht es vor allem darum, ob die Infektionen in den jüngeren Altersgruppen sich über die Haushalte zu den älteren Jahrgängen verbreiten.
Um das zu verhindern, "sind die PCR-Schultestungen wichtig", betonte Popper: "Idealer Weise sollte die Zahl positiver Tests dort jetzt sinken, wenn das System gut funktioniert." Der Forscher wünscht sich auch, dass die Tests weiter durchgeführt werden und ihr Weiterlaufen nicht von der Belegung der Intensivkapazitäten abhängt. Letzteres wäre "unverständlich", da die Intention dahinter aus Systemsicht eine andere ist.
In einigen Bevölkerungsgruppen sehe man nun zum Glück bereits "Sättigungseffekte". Im virtuellen Bevölkerungsmodell könne man in Teilbereiche und Regionen hineinschauen. Gibt es dort beispielsweise schon rund 90 Prozent durch Impfung oder Erkrankung Immunisierte, gehen dem SARS-CoV-2-Virus dort nach kurzer Zeit "die Menschen aus", die es noch befallen kann. Das Infektionsgeschehen kommt dann quasi zum Erliegen. "Kommt dort eine Mini-Epidemie an, ebbt sie ab und muss einen neuen Anlauf nehmen", erklärte Popper. Das helfe in der aktuellen vierten Welle nun schon zum Teil. Im Gegensatz dazu hätte sich vor einem Jahr das Virus eben noch ungehemmt weiterverbreitet.
Impfquote bei knapp 60 Prozent
Allerdings schätzt der Forscher von der Technischen Universität (TU) Wien und dem TU-Spin-off dwh in neuen Modellrechnungen den Anteil jener Menschen, die in Österreich tatsächlich vollständig geschützt sind mit Ende August, erst auf knapp 55 Prozent. Zwar liegt die Quote der vollständig geimpften Personen bei knapp 60 Prozent, je nach Impfstoff ist aber ein kleinerer Prozentsatz davon trotzdem nicht ausreichend geschützt. Dazu komme, dass man in den neuen Berechnungen, in denen nun seit Juli die Infektionszahlen unter Ungeimpften, Genesenen und Geimpften eingehen, auch klar sieht, dass nur einfach Geimpfte einen sehr geringen Schutz vor einer Ansteckung mit der dominanten Delta-Variante haben.
Nicht zuletzt fallen auch vereinzelt genesene und geimpfte Personen aus dieser Gruppe heraus, die ihren Schutz nach einer gewissen Zeit verlieren. Dafür zeigt sich in der virtuellen Bevölkerung, dass inklusive modellierter Dunkelziffer bereits mehr als 70 Prozent zumindest einmal Kontakt zu Virus oder Impfung gehabt haben und somit beginnen, eine Immunität aufzubauen. Diese Ausgangslage diene aktuell für die weiteren Prognosen und Einschätzungen, wann die Dynamik österreichweit nachhaltig abfallen könnte.
Knapp 700.000 Genesene
Eine gute Nachricht ergibt sich aus den Modellrechnungen in Bezug auf die aktuell knapp 700.000 laborbestätigten Genesenen. Bisher ging man davon aus, dass diese für rund 180 Tage vor Neuinfektionen geschützt sind. Stimmt das, müssten sich aber momentan mehr Genesene anstecken. Die Simulationen auf Basis neuer Daten von Poppers Team legen daher nahe, dass viele Menschen aus dieser Gruppe eher ein Jahr lang geschützt sind. Diskutiere man nun über 2G- oder 3G-Maßnahmen, sollten diese Befunde berücksichtigt werden, auch wenn Genesenen zumindest eine Impfung empfohlen ist, die den Schutz stark weiter erhöht, betonte Popper. Von den aktuell Genesenen ist momentan immerhin mehr als die Hälfte auch zumindest einfach geimpft.
Wann es so weit ist, dass es in der Gesamtbevölkerung eigentlich nur noch zu kleineren Ausbrüchen kommen kann, lasse sich nicht ganz genau prognostizieren. Anfang September rechnete Popper mit rund einer Million zusätzlich geimpften Personen, die hierzulande notwendig wären, um ziemlich klar auf der sicheren Seite zu sein. Jetzt fehlen nach dieser Rechnung nur mehr rund 860.000 Menschen. Letztlich laufe nun alles auf eine Art "Rennen" zwischen der mit großen Risiken behafteten Immunisierung durch Infektion und der Impfung mit ihren sehr geringen Risiken hinaus. Dass eine Situation in Österreich eintritt, in der es wieder einen Lockdown braucht, "darf uns jedenfalls gar nicht mehr passieren - das ist einfach keine Option", so Popper: "Jede Impfung zählt daher."