"Österreich ist frei" waren seine wichtigsten Worte
Die Bauernstube, in der österreichische Geschichte geschrieben wurde, ist unverändert, auch in den anderen Zimmern stehen die Möbel immer noch so da wie damals, die Bilder hängen dort, wo sie zu Lebzeiten des legendären Politikers gehangen sind und auf dem Türschild steht nach wie vor "Ing. L. Figl". Und das, obwohl 50 Jahre vergangen sind, seit der Bundeskanzler, Außenminister und "Vater des österreichischen Staatsvertrags" gestorben ist. Seine Tochter bewohnt heute noch seine Villen-Etage in Wien-Döbling. Und sie erinnert sich an den privaten Leopold Figl, der zu den Gründervätern der Zweiten Republik zählt.
"Ich habe meinen Vater erst kennen gelernt, als ich sieben Jahre alt war", erzählt Anneliese Figl, "bis dahin saß er im Konzentrationslager. An die Zeit vor seiner Verhaftung im März 1938 kann ich mich nicht erinnern, doch dann, im Frühjahr 1943, stand plötzlich eines Morgens ein fremder Mann neben meinem Bett, und ich hab’ meine Mutter gefragt: ,Ist das mein Papi?’"
Fünf Jahre Dachau
Ja, er war es. Auf 45 Kilo abgemagert, fünf Jahre lang für seinen Glauben an Österreich in Dachau eingesperrt, gefoltert und gedemütigt, war er Mitten im Krieg überraschend nach Haus gekommen und seiner Frau Hilde und seinen Kindern Hans und Anneliese um den Hals gefallen: "Er hat sicher sehr darunter gelitten, dass er das Heranwachsen seiner Kinder nicht miterleben durfte.""Meine Kinder", schreibt er seiner Frau aus der Haft, "werde ich kaum erkennen, insbesondere Anneliese". Die heute noch überzeugt davon ist, "dass wir mehr als zwei Kinder geworden wären, hätte mein Vater nicht so viele Jahre in Haft verbracht".Zwei Jahre und eine weitere Inhaftierung später, war Figl der erste frei gewählte Bundeskanzler der Zweiten Republik. "Hier, in der Bauernstube", erinnert sich seine Tochter, "hat er viel mit Politikern, Freunden und Mitarbeitern geredet, unmittelbar nach dem Krieg gab es ja keine Restaurants, in denen man sich treffen konnte, also sind sie da gesessen und haben über das Schicksal des zerstörten Landes entschieden".
Doch davon haben weder Anneliese Figl noch ihr Bruder oder ihre Mutter etwas mitbekommen, da die Türen zur Bauernstube stets verschlossen waren. Politik hielt er von der Familie fern. Dennoch hat die Tochter vieles beobachtet. "Ich habe am Heiligen Abend 1945 die berühmte Rede meines Vaters im Radio gehört, in der er als Bundeskanzler sagte: ,Ich kann euch zu Weihnachten nichts geben... Wir haben nichts. Ich kann euch nur bitten: Glaubt an dieses Österreich!’" Und am 15. Mai 1955 hat sie die Übertragung aus dem Belvedere gehört, wo er die wichtigsten Worte seines Lebens rief: "Österreich ist frei". "Das waren bewegende Momente für mich, den eigenen Vater in solch historischen Stunden im Radio zu hören. Und ich war sehr stolz auf ihn."
Die Befreiung
Der April 1945 war wohl die unglaublichste Zeit in Figls Leben. Eben noch als "Verräter" Häftling in Mauthausen und im Wiener Landesgericht und von den Nazis zum Tod verurteilt, wurde er, als die Rote Armee näher rückte, am 6. April aus der Todeszelle befreit. Elf Tage später war er bereits einer der Gründer der ÖVP, nach weiteren zehn Tagen niederösterreichischer Landeshauptmann und im Dezember Bundeskanzler. "Dabei hatte er nicht einmal etwas Ordentliches anzuziehen", sagt seine Tochter. "Er hatte noch ein paar alte, abgetragene Anzüge, die ihm viel zu weit waren und an seinem ausgemergelten Körper schlotterten. So ist er in die Regierung gegangen."
Aus Figls Gästebuch
In dem eben erschienenen Buch "Leopold Figl, Der Glaube an Österreich" werden erstmals die wichtigsten Seiten aus Figls privatem Gästebuch gezeigt, auf denen sich Mitstreiter und Politikerkollegen verewigten. Schwarze und Rote, von Julius Raab über Kardinal Innitzer bis Karl Renner und Adolf Schärf. Am 6. März 1938, wenige Tage vor Figls erster Verhaftung, hatte Raab noch gereimt:
Österreich muss bleiben
Rot weiß rot bis in den Todt
Ist nicht nur ein schales Wort,
Ist unser Sinn, ist unser Hort.
Auch Figl selbst trug sich ins eigene Gästebuch ein. Als er am 8. Mai 1943 aus dem KZ Dachau heimkehrte, notierte er in schlichten Worten: "Zu Haus ists am schönsten!" Doch die Freiheit währte nur kurz. Denn nach dem Stauffenberg-Attentat auf Hitler wurde Figl am 8. Oktober 1944 neuerlich von der Gestapo verhaftet. "Völlig grundlos, er hatte mit dem Attentat absolut nichts zu tun", sagt seine Tochter, "aber es genügte wohl zu wissen, dass er auf der anderen Seite stand". Figl saß jetzt bis April 1945.
Anneliese Figl kann sich nicht daran erinnern, dass ihr Vater jemals darüber gesprochen hätte, was ihm von den Nationalsozialisten angetan wurde, "das war kein Thema, er war vom ersten Tag an wieder politisch aktiv und hat immer nur nach vorn geschaut. Gut möglich auch, dass er vieles von dem, was er erlebte, verdrängt hat."
"Wohl unseres Volkes"Zu tun war viel in den ersten Nachkriegstagen. "Die Zeit, in der wir heute leben, ist – wenn auch mit der damaligen nicht vergleichbar – sehr schwierig. Ich glaube, dass uns der Pioniergeist meines Vaters auch jetzt gut tun würde."Bundespräsident Renner schrieb im Dezember 1945 in Figls Gästebuch: "Meinem treuen, standhaften Mitarbeiter... die besten Grüße des Bauernsohnes dem Bauernsohn, die aufrichtigen Wünsche für erfolgreiche Arbeit am Wohl unseres Volkes.""Der Poldl", wie die Österreicher Figl liebevoll nannten, war der bei weitem populärster Politiker des Landes, als er im März 1953 durch einen Putsch in seiner eigenen Partei als Bundeskanzler gestürzt wurde. Das Schlimmste an der Situation war, dass sein bester Freund Julius Raab an seinem Sessel mitgesägt hatte und dann sein Nachfolger wurde. "Mein Vater war sehr verbittert", meint Anneliese Figl, "aber er hat nie über diese Kränkung gesprochen. Das Erstaunliche ist, dass die Freundschaft mit Raab trotz allem aufrecht blieb. Mein Vater konnte zwischen der persönlichen Enttäuschung und der staatspolitischen Situation unterschieden."
Auch Raab zeigte, dass er Figl weiterhin freundschaftlich verbunden war und holte ihn als Außenminister ins Kabinett. Kaum jemand hätte damals gedacht, dass damit die wohl bedeutendste Aufgabe in Leopold Figls Karriere noch bevorstand: die Unterzeichnung des Staatsvertrags.
Viel Alkohol
Bei den Verhandlungen zum Staatsvertrag sei viel Alkohol geflossen, hört man immer wieder. Kann Anneliese Figl das bestätigen? "Mein Vater hat sicher gerne das eine oder andere Glas Wein getrunken", erklärt sie, "aber er war kein exzessiver Trinker. Der Wein hat einfach die richtige Atmosphäre geschaffen, um miteinander reden zu können. Bei den Verhandlungen zum Staatsvertrag mit den Sowjets ist aber auch viel Wodka geflossen. Den hat mein Vater gar nicht mögen, aber er wusste, dass die Russen es als Beleidigung empfinden würden, wenn er den abgelehnt hätte. Also musste er auch Wodka trinken."
Die meistzitierten Worte in Bezug auf Figls Freude an einem guten Tropfen fand der Schriftsteller Otto Zernatto:
Kein andrer kam ihm gleich,
Denn er soff für Österreich...
Tag des Staatsvertrags
"Ich habe meinen Vater am 15. Mai 1955 nur ein paar Minuten gesehen", sagt seine Tochter. "Er kam nach der Staatsvertrags-Zeremonie im Belvedere kurz nach Hause, um sich schnell für den Abendempfang in Schönbrunn umzuziehen. Viel erzählen über den großen Tag konnte er da nicht, alles ging ruck-zuck und schon war er wieder weg."
So fröhlich und gut gelaunt Leopold Figl auf den Bildern des Staatsvertrags wirkt, so schwer war der Tag für ihn persönlich, hatte er doch seine geliebte Mutter nur vier Tage davor zu Grabe tragen müssen.
Figl-Gedenken
Leopold Figls wird heuer vielfach gedacht. Vor 70 Jahren endete der Zweite Weltkrieg, in dessen Folge er für Österreichs Wiederaufbau hauptverantwortlich war, vor 70 Jahren wurde auch die ÖVP gegründet, vor 60 Jahren unterzeichnete Figl den Staatsvertrag. Und vor 50 Jahren ist er gestorben.
Spätfolge der Schläge
Figls körperlicher Verfall setzte mit Beginn des Jahres 1965 ein. Er war an Nierenkrebs erkrankt, schleppte sich bis zuletzt täglich ins Büro, nahm alle Verpflichtungen wahr. "Es ist durchaus möglich", sagt seine Tochter, "dass sein früher Tod mit 62 Jahren die Folge der Schläge war, die er in Dachau und Mauthausen hatte ertragen müssen".
Geboren in Rust im Tullnerfeld am 2. Oktober 1902 als eines von neun Kindern einer Bauernfamilie, die die Mutter allein aufziehen muss, da ihr Mann jung stirbt. Nach dem Landwirtschaftsstudium ist Leopold Figl von 1934 bis 1938 im Ständestaat Direktor des niederösterreichischen Bauernbunds. 1938 von den Nationalsozialisten als „Schutzhäftling Nummer 13.897“ bis Mai 1943 im KZ Dachau inhaftiert, plant er dort mit den einst verhassten Sozialisten das Wiedererstehen Österreichs.
Das Todesurteil
Ab 8. Oktober 1944 wieder in Haft und als „Volksverräter“ zum Tod verurteilt, erfolgt am 6. April 1945 die Befreiung aus dem Wiener Landesgericht. Am 17. April ist Figl Mitbegründer der ÖVP, deren Obmann er bis 1951 bleibt.
Ebenfalls im April 1945 wird Figl niederösterreichischer Landeshauptmann und Staatssekretär der Regierung Renner. Ab 21. Dezember 1945 Bundeskanzler, muss er 1953 wegen „zu großer Kompromissbereitschaft mit der SPÖ“ zurücktreten. Julius Raab, sein Nachfolger als Bundeskanzler, holt Figl als Außenminister in die Regierung, als der er am 15. Mai 1955 den Staatsvertrag unterzeichnet. 1959 bis 1962 ist Figl Präsident des Nationalrats, danach bis zu seinem Tod wieder Landeshauptmann von Niederösterreich.
Persönliches
Leopold Figl ist von 1930 bis zu seinem Tod mit Hilde Hemala verheiratet, die 1989 stirbt. Das Ehepaar hat zwei Kinder, den Elektroingenieur Johannes Figl (1932–2000), und Dkfm. Anneliese Figl (*1936).
Leopold Figl stirbt am 9. Mai 1965 in Wien.