Flötistin spielte während der Operation Bach und Mozart
„Von außen betrachtet ist das eher etwas ungewöhnlich“, gibt Sofia Pinaeva zu und lacht dabei. „Aber für mich war das keine Frage, dass ich das mache.“ Die 28-Jährige war wohl die bisher ungewöhnlichste Patientin der Uni-Klinik für Neurochirurgie in Graz: Sie war bei Bewusstsein und musizierte, während sie am Gehirn operiert wurde.
Seit sechs Jahren führt das Team um Klinikvorstand Michael Mokry solche Wachoperationen durch, 18 waren es allein 2017. In allen Fällen geht es darum, Tumore aus dem Gehirn zu entfernen. Und zwar so, dass danach möglichst wenig Einschränkungen zurückbleiben. „Wenn wir operieren, verletzen wir natürlich. Und jede Verletzung führt zu Funktionsstörungen“, beschreibt Mokry. Das kann Seh- oder Sprachverlust sein, aber auch Gehstörungen oder sogar der Verlust der Fähigkeit, Emotionen zu erleben.
Chemo half nicht
Bei Pinaeva wurde ein sogenanntes Gliom im rechten Gehirnlappen diagnostiziert. Diese Art bösartiger Tumor galt lange Zeit als inoperabel, da er sich meist an schwer zugänglichen Stellen befindet. Er wurde im November 2015 zufällig entdeckt, die Musikstudentin wurde nach einem Fahrradsturz untersucht. Zunächst probierte sie es mit einer Chemotherapie, doch diese verbesserte den Zustand nicht. Deshalb entschloss man sich zum chirurgischen Eingriff.
Operateur Gord von Campe entfernte rund die Hälfte des Tumors – dank der Wachoperation mehr, als in Vollnarkose risikolos möglich gewesen wäre. „Da müssen wir einen Sicherheitsrand zurücklassen, das wäre dann mehr Tumor als nötig“, schildert der Mediziner. „Kann uns der Patient aber etwas sagen, dann können wir bis an die Grenze des Möglichen gehen.“ Damit ist auch die Gefahr gebannt, dass ein Betroffener danach nicht mehr sehen, greifen oder fühlen kann.
Die 28-Jährige wurde zunächst narkotisiert, die schmerzenden Stellen betäubt, das Gehirn selbst ist schmerzunempfindlich. Danach wurde die junge Frau wieder aufgeweckt und sie begann, auf ihrer Querflöte zu spielen. „Bach, Mozart, ich habe alles gespielt, was mir eingefallen ist“, beschreibt Pinaeva. Zusätzlich wurde auch noch ihr Sehvermögen anhand von Bildern getestet: Mit Elektroden setzen die Chirurgen die vom Tumor befallenen Bereiche des Gehirns kurz unter Strom - konnte Pinaeva nicht mehr sehen oder spielen, dann markierten sie die Stelle. Dort durfte nicht geschnitten werden.
Gleichungen gelöst
Das alles war zuvor mit Psychologin Karla Zaar abgesprochen. „Wir suchen Aufgaben und Funktionen aus, die leicht während der Operation zu beantworten sind“, beschreibt die Expertin. Das sei bei jedem Patienten unterschiedlich. Manche müssen Bilder in einem ganzen Satz beschreiben, etwa: „Das ist ein Baum“. Die Grazer Klinik hatte auch schon Patienten, die während des Eingriffs Dinosaurier anhand von Fotos benannten oder mathematische Gleichungen lösten.
„Das bringt uns viel weiter als jede andere Testmöglichkeit“, betont von Campe. Ist der Patient in Vollnarkose, können die Ärzte dagegen nur überprüfen, ob es durch den Eingriff Lähmungen der Gliedmaßen gibt. Aber für Emotionen, Seh- oder Sprachfähigkeit gibt es solche passiven Tests nicht.
Sofia Pinaeva erinnert sich genau an die eineinhalb Stunden der Operation. Auch daran, dass sie sich bei einem Stück einmal verspielt hat. „Aber ich hab’ das nicht geübt“, schmunzelt sie. Bereits einen Tag nach dem Eingriff habe sie sich blendend gefühlt. „Fünf Tage danach hab’ ich auch schon ein Gartenfest mit Freunden organisiert.“ Ihren Beruf als Flötenlehrerin und Fotografin kann sie dank der OP-Technik weiter ausüben, auch wenn das Gliom nicht vollständig entfernt werden konnte. „Ich habe einen Gehirntumor“, sagt die junge Frau. „Manche Leute reagieren darauf, als würde ich schon tot dastehen. Aber es geht weiter. Mir ist wichtig, zu zeigen, diese Diagnose ist kein Todesurteil.“