Chronik/Österreich

Die Deutschen im Siegesrausch

Sie sind eigentlich ganz schön viele. Genau genommen 164.820. So viele Deutsche lebten laut Statistik Austria mit Stichtag 1. Jänner 2014 in Österreich. Die Lieblingsnachbarn bilden damit die größte Ausländergruppe. Im Straßenbild merkt man normalerweise aber nicht viel von ihnen, wenn er den Mund nicht aufmacht, ist der Deutsche nicht leicht als solcher erkennbar. Derzeit ist aber nichts normal. Derzeit ist Fußball-WM. Und da wird Deutschland zu Schlaaaand – und der Deutsche zum bunt bemalten, trikottragenden, fähnchenschwingenden Fan.

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Fest in schwarz-rot-goldener Hand ist derzeit etwa der Donaukanal in Wien. Beim Public Viewing in der Strandbar Herrmann sind die Deutschen in der Überzahl, in der Adria Wien am anderen Kanalufer trifft sich die "Piefke Connection" sogar zu offiziellen "Piefke Public Viewings". Jockel Weichert hat die Piefke Connection 2008, rechtzeitig vor der Europameisterschaft, gegründet – "um nicht allein Fußball schauen zu müssen", sagt er. Mittlerweile hat das Netzwerk 4000 Mitglieder. Weichert war daher am Dienstag beim Spiel gegen Brasilien alles andere als allein – und auch beim Finale am Sonntag wird die Adria wieder voll sein. "Um 18 Uhr geht’s los. Aber es gibt sicher Leute, die schon früher kommen und ihr Handtuch auf eine Liege legen", sagt Weichert mit einem Augenzwinkern.

Schauplatzwechsel

Derlei touristische Unarten sind den Deutschen auf dem Campingplatz Wörthersee vermutlich fremd. Die Zelt- und Wohnwägen-Freunde gehen es gewöhnlich lieber gemütlich an, die Post geht eher im Strandbad vis-à-vis ab. Zehn Stunden nach dem sensationellen 7:1 sind aber auch die Camper von einer feucht-fröhlichen Nacht gezeichnet. Auf den Wohnwägen sind Deutschlandfahnen gehisst, Götze- und Müller-Trikots achtlos auf die schwarz-rot-goldenen Klappstühle gelegt, Familie Mummenbrauer aus Goslar im Harz sitzt beim Frühstück. "Ein Bier pro Tor habe ich gestern getrunken", erzählt Klaus. Seine Frau Inge hat es nicht so sehr krachen lassen, sagt aber auch: "Es war ein historisches Ereignis. So etwas vergisst man nie mehr. Wir sind reif für den Titel, wollen am Sonntag in Rio wieder jubeln und zum vierten Mal Weltmeister werden."

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Robert Marx aus dem Saarland, der sich seine eigene Satellitenanlage zusammengezimmert hat und jedes Match im Wohnwagen schaut, ist überzeugt davon, dass das gelingt: "Jetzt werden wir natürlich auch Weltmeister. Ich war wirklich platt, mit solch einem Triumph rechnet man natürlich nicht." Seine Ursula, die gewöhnlich mit Handarbeiten beschäftigt ist, wenn Fußball läuft, meint: "Diesmal musste sogar ich mit einem Auge hinschauen."

Dass am Sonntag der große Coup gelingt, ist auch für Familie Spindler aus Darmstadt heute schon klar. "Man hatte ja schon ein wenig Mitleid mit den Brasilianern, weil sie so abgeschossen wurden", sagt Angela. Ausreden, wonach das Fehlen von Neymar den Ausschlag gegeben haben könnte, lässt sie nicht gelten: "Ein Team wie Brasilien hat ja noch 20 andere gute Spieler, die für den Superstar einspringen können."

Heiß begehrte Trikots

Zurück in Wien. Hier pfeifen einige auf den desaströsen Untergang von Fußball-Brasilien. "Es kaufen immer noch Kunden Brasilien-Trikots", erzählt Markus Strobl vom einzigen Fußball-Fan-Shop in Wien. Die Leiberln der "Seleção" sind ausreichend vorrätig. Knapp wird es mit den schwarz-rot-goldenen Artikeln. "Seit zwei Wochen sind die Trikots nicht mehr lieferbar. Wir haben aber noch einige Sachen", sagt Strobl. Spätberufene "Schland"-Fans haben also noch eine Chance auf ein Leiberl.