Chronik/Österreich

"Das ist ja fast identisch zu uns"

"In der Früh bei den Nachrichten aus Nizza hab’ ich mir gedacht, um Gottes Willen, das kann doch jetzt nicht sein. Das ist ja fast identisch zu uns." Rudolf Reisner war der Einsatzleiter des Roten Kreuzes, als Graz vor einem Jahr von einer Amokfahrt erschüttert wurde.

Graz, 20. Juni 2015, und Nizza, 14. Juli 2016. Drei Todesopfer in Graz, mindestens 84 in Nizza. "Ein Horrorszenario", sagt Reisner. "Ein Albtraum. Ich mag mir die Bilder gar nicht anschauen. Die Kollegen dort müssen am Anfang des Einsatzes Tote beiseite räumen, damit sie überhaupt an die Überlebenden herankommen, um zu helfen."

Zwei Kilometer Todesfahrt durch Nizza, viereinhalb Kilometer durch Graz. Ähnlich dramatisch verliefen in beiden Städten die ersten Stunden nach den Tragödien: Nachrichten überschlugen sich ebenso wie Gerüchte, was Betroffene wie Einsatzkräfte und Helfer anfangs noch ahnungsloser und verwirrter zurückließ. "Am Beginn hab’ ich mir überhaupt kein Bild von der Situation machen können", erinnert sich Reisner. In Nizza dürfte es den Helfern ähnlich gegangen sein.

Zurück nach Graz: Reisner wurde an diesem Samstag im Juni 2015 kurz vor halb ein Uhr zu einem Einsatz gerufen, Verkehrsunfall mit zwei Verletzten in der Zweiglgasse in Graz. Doch kaum eingelangt, der nächste Alarm: Binnen Minuten wurde aus dem Routinefall ein "Großschadensereignis" – so die Bezeichnung im Fachjargon der Rettungskräfte.

Auf dem Weg in die Innenstadt kam Reisner an verletzten Fußgängern und niedergefahrenen Radlern vorbei. In der Herrengasse kämpften Sanitäter vergeblich um das Leben zweier Menschen. Weitere Meldungen berichteten von 38 Schwerverletzten beim Rathaus.

Ratlosigkeit

"Am Hauptplatz hab’ ich dann für zwei, drei Minuten nicht gewusst, was ich tun soll, das sag’ ich ganz ehrlich", erzählt Reisner. "Ich hab’ im ersten Moment nicht gecheckt, was los war." Dann tauchten auch noch Gerüchte auf, die noch mehr Angst verbreiteten: "Gibt’s einen zweiten Amokfahrer? Das stand gut fünf Minuten im Raum, war dann aber Gott sei Dank rasch wieder vom Tisch."

Darüber hinaus sind die beiden Todesfahrten kaum vergleichbar – zu unterschiedlich sind die Hintergründe, allen Verschwörungstheorien im Internet zum Trotz. Die Fakten: Der Grazer Amokfahrer Alen R., 26, ist laut zweier Gutachter schizophren und leidet unter Verfolgungswahn, damit ist er nicht zurechnungsfähig und straffähig (siehe Zusatzbericht). Er soll während der Tat unter Cannabis-Einfluss gestanden sein und hatte im Gegensatz zum Attentäter aus Nizza keine Pistole dabei. Seine Waffe, ein Gewehr, wurde R. bereits 2014 abgenommen, nachdem er im Garten seines Elternhauses herumgeballert haben soll.

Kein Hinweis auf Terror

"Es hat von Beginn an keinen Hinweis auf einen radikalen oder terroristischen Hintergrund gegeben", bestätigt der Grazer Staatsanwalt Christian Kroschl erneut. "Da hat es nichts gegeben, keinen einzigen Hinweis darauf im gesamten Ermittlungsverfahren." Das Verfahren dauerte fast ein Jahr, der Akt umfasst gut 1000 Seiten.

Gerade in Graz sind Polizei und Justiz äußerst sensibel, wenn es um Radikalismus geht: Fünf Dschihadisten-Prozesse mit 15 Angeklagten wurden hier schon durchgeführt, nachdem im November 2014 bei Razzien mehrere Moscheevereine durchkämmt wurden.

In den Ermittlungen zur Amokfahrt tauchte jedoch keinerlei Verbindung zu der radikal-islamistischen Szene auf. "Es hat vom ersten Tag auch an Untersuchungen in diese Richtungen gegeben", versichert Kroschl. "Aber die haben nichts ergeben."

Dreifacher Mordverdacht und hundertfacher Mordversuch: Das schrieb der Staatsanwalt vor Kurzem in seinen Schlussbericht – dies ist auch ohne Terror dramatisch genug.

Noch steht der Termin für die Verhandlung nicht fest – es dürfte aber noch heuer so weit sein, vermutlich im Herbst. Die Geschworenen werden allerdings nicht über mögliche Schuld und Strafe des Amokfahrers zu urteilen haben, sondern bloß über die Einweisung Alen R.s in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher: Da der 27-Jährige als unzurechnungsfähig eingestuft wurde, gibt es keine Mordanklage der Staatsanwaltschaft Graz, sondern nur den Antrag auf Einweisung. Rechtskräftig ist der Antrag noch nicht, die Einspruchsfrist der Verteidigung läuft noch einige Tage.

R. wird vor den Geschworenen jedenfalls kein "Angeklagter" sein, sondern nur "Betroffener", eine juristische Feinheit. Jemand, der nicht straffähig ist, kann auch nicht in Untersuchungshaft bleiben: Vor einem Monat wurde R. aus der Justizanstalt Graz-Jakomini entlassen. Zunächst kam er in die geschlossene Abteilung einer Grazer Klinik, wenige Tage später wurde er in die Sonder-Justizanstalt Göllersdorf überstellt. "Vorläufige Anhaltung" heißt das im Fachjargon.

Ein Arzt prüft

Nach einer möglichen Einweisung durch die Geschworenen wird die Anhaltung als sogenannter Maßnahmenvollzug fortgesetzt. Ein Mal jährlich überprüft ein Psychiater in solchen Fällen den Zustand des Betroffenen. Wird er als geheilt bzw. gesund betrachtet, kommt so ein Insasse wieder frei.

Das ist ein Umstand , der vor allem den Grazer Bürgermeister Siegfried Nagl zu schaffen macht: Er sieht darin ein "Schlupfloch" und fordert, dies zu schließen: "Einen offensichtlichen Mörder, der noch dazu vielen Menschen schweres körperliches und seelisches Leid zugefügt hat, nicht anzuklagen, ist ein Affront gegenüber den Opfern", kritisiert Nagl. "Für mich ist der Mann schuldig." Er sollte "lebenslang in Gewahrsam bleiben".

Der ÖVP-Stadtchef war selbst Betroffener und wäre beinahe ebenfalls angefahren worden, als er mit seinem Moped unterwegs war.