Chronik/Österreich

Carfentanil: Der "serial killer" ist in Österreich aufgetaucht

Am 23. Oktober 2002 stürmten rund 50 tschetschenische Kämpfer das Dubrovka-Theater in Moskau. Sie forderten für die Freilassung der 850 Besucher den Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien. Es kam nicht dazu. Am vierten Tag der Geiselnahme leiteten russische Spezialeinheiten ein Gas durch das Belüftungssystem, um die Geiselnehmer zu betäuben, bevor sie eine Rettungsaktion starteten. Rund 130 Geiseln starben bei der Aktion - nicht durch die Geiselnehmer, sondern durch das ins Theater geleitete Gas. Russland weigerte sich, die Zusammensetzung des Gases bekannt zu geben, aber eine britische Analyse konnte den Stoff Carfentanil nachweisen.

Carfentanil gehört zur Gruppe der Fentanyle; das sind synthetische Opiate, um ein Vielfaches stärker als beispielsweise Morphium. Carfentanil gilt als etwa 10.000 Mal stärker als Morphin. Es ist so potent, dass es zur Sedierung von großen Wildtieren wie Elefanten eingesetzt wird. Dass Drogenhunde sterben, wenn sie daran schnüffeln. Dass es auf der Liste der chemischen Waffen steht.

Ein paar Kristalle sind tödlich

Auf der Straße ist es unter den Namen „grey death“, „drop dead“ und „serial killer“ bekannt. Denn Carfentanil wird nun auch von Süchtigen genommen – und eine Dosis im Äquivalent von ein paar Salzkörnern kann tödlich sein. Bislang ist es vor allem in den USA verbreitet, wo in der Folge der durch die Überverschreibung von Schmerzmitteln ausgelösten Opioidenkrise im Vorjahr insgesamt 65.000 Menschen an einer Überdosis starben; mehr als an Schusswaffen und Autounfällen gemeinsam. Das Auftauchen von Carfentanil machte alles noch einmal schlimmer. Der 5. Juli 2016 war „der Tag, an dem Carfentanil bei uns aufgeschlagen ist“, erzählte ein Polizist der Stadt Akron in Ohio der New York Times. Er hat das Datum in Erinnerung, weil allein an diesem Tag 17 Überdosen registriert wurden, eine Person starb. Und 140 weitere im nächsten halben Jahr.

Nun ist der Stoff erstmals auch in Österreich aufgetaucht. Im Oktober wurden bei Checkit, einer Beratungsstelle, bei der Konsumenten ihre Drogen abgeben und analysieren lassen können, vier Proben analysiert, die synthetische Opioide enthielten – darunter eben Carfentanil genauso wie U-47700. Letzteres war bereits diesen Sommer in Kärnten für einen Todesfall verantwortlich: Ein 38 Jahre alter Mann starb in einem Therapiezentrum, nachdem er eine Überdosis des synthetischen Opioids eingenommen hatte.

Sind das erste Vorzeichen dafür, dass synthetische Opioide auch in Österreich auf dem Vormarsch sind? „Man muss zwar immer wachsam sein“, sagt Hans Haltmayer, ärztlicher Leiter der Suchthilfe Wien, aber er glaubt zum aktuellen Zeitpunkt nicht daran. Österreich sei, was den Umgang mit Opiatabhängigen angeht, nicht mit den USA zu vergleichen. „In den USA bieten nur zehn Prozent aller Kliniken überhaupt eine Substitutionstherapie an – und das ist die Therapie der Wahl“, sagt er. Weshalb die Menschen dort auf illegale Stoffe angewiesen sind. In den USA herrsche zudem oft noch ein puritanisches Abstinenz-Paradigma vor, sprich: Die Süchtigen sollen den Drogen komplett abschwören, „obwohl wir wissen, dass diese Sucht eine chronische und meist nicht heilbare Krankheit ist“, sagt Haltmayer.

Genau das sorge oft für tödliche Überdosen. Der Körper gewöhnt sich bei Süchtigen an immer größere Mengen an Opiaten, baut eine Toleranz für diese Stoffe auf. Wenn Konsumenten nun nach einer längeren Abstinenz rückfällig werden, ist die Toleranzgrenze niedriger – und damit steigt die Gefahr für eine Überdosis. Gerade bei hochpotenten Opiaten, die „extrem schwer zu dosieren sind“, sagt Haltmayer – wie eben Carfentanil.

Darknet als Bezugsquelle

Das auch in Europa für zunehmend mehr Drogentote sorgt: Zwischen November 2016 und Mai 2017 sind 48 Tote durch Carfentanil bekannt geworden, 28 davon in Großbritannien. Einer aktuellen Publikation von Europol und EMCDDA (der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht) zufolge wurde Carfentanil bis Ende Juni diesen Jahres 755 Mal in sieben europäischen Ländern sichergestellt – 233 Mal davon in Litauen, 116 Mal in Estland. In Litauen und Lettland wurden erste Funde der Substanz seit 2012 gemeldet, über Estland und Finnland verbreitete es sich nach Kerneuropa und Großbritannien – wo es in den letzten 18 Monaten aufgetaucht ist.

Derzeit sind synthetische Opioide vor allem lokale Phänomene „und weit weg von einer Krise“, sagt Hans Haltmayer. Sie tauchen seiner Meinung nach vor allem dort auf, wo eine restriktive Drogenpolitik betrieben wird und Suchtkranke keinen Zugang zu Substituten haben. „In Bayern etwa wurden nach einer Verknappung der Substitutionstherapie die Reste von Fentanyl-Pflastern ausgelöst und konsumiert“, sagt er.

Aber wie kommen diese Stoffe überhaupt nach Österreich? „Die Einfuhr erfolgt in den meisten Fällen über das Darknet“, sagt Daniel Lichtenegger, stellvertretender Leiter des Büros für Suchtmittelkriminalität im Bundeskriminalamt. Für ihn haben synthetische Opiate durchaus das Potential, zum Problem zu werden: „Die Preise dafür sind sehr gering, da besteht vor allem bei Heroinkonsumenten die Gefahr, dass sie umsteigen“, sagt er. Woher die Stoffe kommen, ist nicht bekannt, in den USA dürften sie meist aus China importiert werden.

Im Bundeskriminalamt rüstet man jedenfalls auf: „Wir hatten intern schon Schulungen zum Thema synthetische Opiate“, sagt Lichtenegger. Denn derart hochkonzentrierte Stoffe bereiten auch den Fahndern Probleme, wenn sie damit in Kontakt kommen. „Es gibt einen Verdachtsfall, dass sich einer unserer Ermittler eine Vergiftung durch Fentanyl beim Öffnen einer Probe zugezogen haben könnte.“ Die Ermittler haben dasselbe Problem wie die Konsumenten, sagt Lichtenegger: „Man weiß nicht, was da drinnen ist.“ Und diese Unwissenheit kann tödlich enden.