71 Tote im Kühl-Lkw: Mit dem "Reisebüro" in den Tod
Bis zu jenen schicksalhaften Tagen Ende August zeigt Sediq S. auf seiner Facebookseite, wo er überall hingereist ist: Istanbul, Paris, Mailand oder Brüssel. Doch seit der Tragödie von Parndorf mit 71 Toten gibt es keinen Eintrag mehr. Der Iraker ist in seiner Heimat untergetaucht. Einem Team der Nachrichtenagentur Reuters gelang es dennoch, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Detailreich schildert der Mann im Hintergrund, wie er fünf Landsmänner in den Tod schickte.
Sediq S. war quasi einer der "Reiseleiter". Denn die Schlepperorganisationen haben kaum hierarchische Strukturen, viele kleine "Reiseagenturen" bedienen sich der lokalen Netzwerke. "Diese besorgen Reisepässe und sind mitunter auch legale oder halb legale Unternehmen", erklärt Oberst Gerald Tatzgern vom Bundeskriminalamt gegenüber dem KURIER. In diese Ebene dringen die Fahnder eher selten vor, heuer wurden aber 17 solche Personen nach Hinweisen aus Österreich in der Türkei festgenommen.
7500 Dollar
Auch Sediq S. bezeichnet sich selbst als "Guide". Im irakischen Duhok gilt er als der Mann, mit dem man nach Deutschland gelangt. Fünf irakische Kurden buchten bei ihm, 7500 Dollar pro Kopf kostete die Reise in den Tod; S. hat rund zehn Jahre Erfahrung in diesem Geschäft, berichtet er. Acht Monate dazwischen war er in Haft. Und er kümmerte sich um seine "Kunden". Er setzte die fünf Iraker in den Bus. Als sie am 11. August in Istanbul ankamen, stand er plötzlich wieder vor ihnen. Die fünf Iraker setzten ihre Fahrt über den Landweg fort und reisten mit 30 anderen Personen über die türkisch-bulgarische Grenze, anschließend ging es zehn Stunden zu Fuß weiter. Später wurden sie nach Sofia gebracht.
Am 23. August landete die Gruppe in Serbien. Offenbar wurden sie in Belgrad als Flüchtlinge registriert. Rasoul, einer der Kurden, telefonierte von hier mit seinem älteren Bruder. Von hier brachen die fünf Männer am nächsten Tag Richtung Ungarn auf. Sediq S. gab ihnen den Kontakt zu zwei Schmugglern – unter anderem zu einem Landsmann namens Bewar. Dieser brachte die Kurden zu einem Afghanen. Vermutlich jenem, der später in Ungarn verhaftet wurde.
Der Afghane brachte die Gruppe offenbar zu Fuß nach Ungarn. Am 25. August, kurz nach Mitternacht, dürften sie dort in den Kühl-Lkw eingestiegen sein, in dem sie mit 66 anderen ersticken. Sediq S. telefonierte mittags mit Bewar. Dieser versicherte, die Iraker seien in München angekommen.
Und das erzählte S. den Verwandten der Männer. Doch die Familien erreichten ihre Angehörigen nicht mehr.
DNA-Proben
Als die Familien von den Toten in Österreich hörten, stieg die Sorge. S. rechnete allerdings nicht damit, dass die fünf Iraker im Lkw waren. Die Familien schickten Angehörige aus Deutschland nach Österreich, um DNA-Proben abzugeben. Danach hatten sie Gewissheit.
Für Tatzgern ist diese Geschichte glaubwürdig und die übliche für die Hintermänner. "Diese Organisationen bestehen aus einer ganzen Kette", erklärt der Experte des Innenministeriums. Zentraler Punkt sei dabei meist die Türkei. Die dortigen Behörden behaupten, das Geld fließe in die Taschen der PKK. Doch so genau weiß das niemand. Europol hat jedenfalls festgestellt, dass die Türkei bei den Finanzströmen des Menschenhandels eine große Rolle spielt. Das Innenministerium versucht allerdings auch, Kontakt zu den Ursprungsländern wie Irak oder Iran zu knüpfen. Das sei aber nicht immer ganz einfach und vielfach ein langer Prozess.