"Mein Ort der Unabhängigkeit"
So war das alles eigentlich gar nicht geplant. Denn Pläne hatte Marie-Luise Stockinger in ihrem letzten Schuljahr gar keine konkreten. Dass sie vier Jahre später ein Engagement am Wiener Burgtheater haben würde, war jenseits der Vorstellungskraft der jungen Oberösterreicherin. Im Fall von Marie-Luise Stockinger hat das Leben, der Zufall oder das Schicksal– wem auch immer man diese Kompetenz zusprechen will–, die Unsicherheit quasi überrumpelt und die Zügel in die Hand genommen.
Probe im Garten
"Ich habe meine mündliche Matura verschoben, um beim Vorsprechen am Max Reinhardt-Seminar in Wien dabei sein zu können. Dort angekommen, war ich aber komplett verunsichert und wollte eigentlich gleich wieder nach Hause fahren. Da waren lauter selbstbewusste Bewerber, viele von ihnen aus Deutschland – und ich hatte mich halt völlig alleine zu Hause in unserem Garten auf die Aufnahmeprüfung vorbereitet." Dann wollte sie es aber doch wissen, kam Runde für Runde weiter und schaffte tatsächlich den Sprung ins Seminar.
"Das war so unwirklich. Ich habe zwar als Jugendliche öfter Theater gespielt, aber es war nie ein ernsthafter Berufswunsch", sagt die Tochter des ehemaligen VP-Landesrates und jetzigen Generaldirektors der Oberösterreichischen Versicherung, Josef Stockinger.
Das erste Jahr in Wien sei ein Höhen- und Tiefenrausch gewesen: "Man muss sich unglaublich viel mit sich selbst auseinandersetzen, das ist nicht immer angenehm. Da waren viele Grenzerfahrungen dabei. Nicht nur ein Mal habe ich darüber nachgedacht, die Ausbildung abzubrechen." Soweit gekommen ist es nie, denn bald merkte sie, dass das Schlüpfen in eine Rolle und das Spiel auf der Bühne ihr ganz eigener, selbstständiger Raum sein kann.
Unsicherheit bleibt
"Ich komme aus keiner Künstlerfamilie, niemand hat damit gerechnet, dass ich Schauspielerin werde. Damit habe ich mir meinen Ort der Unabhängigkeit geschaffen", sagt die Oberösterreicherin in schönstem Bühnendeutsch. Die Unsicherheit bleibe aber ein ständiger Begleiter: "Wenn man einen schlechten Tag hat und vor 1200 Leuten steht, hat man auf der Bühne trotzdem nur sich selbst, da hilft das opulenteste Kostüm nichts." Eine Erfahrung, die derzeit auch eine Studienkollegin und Bekannte von Stockinger macht. Mit Miriam Fussenegger, der neuen Buhlschaft im "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen, war sie am Reinhardt-Seminar. Der Kontakt ist geblieben, auch wenn sich die Schauspielerinnen nicht mehr oft sehen.
Wenn der Trubel, die Hitze und der Lärm der Großstadt zu groß werden, setzt sich Marie-Luise Stockinger in den Zug. "Sobald ich in St. Florian bin, bin ich zu Hause. Dieses Gefühl ist nicht an Oberösterreich gebunden, sondern eher an meine Familie und meine Freunde."
Natürlich spricht die Familie mit, schaut sich sämtliche Stücke an, in denen Marie spielt. "Das war am Anfang nicht leicht für mich. Mittlerweile weiß ich, dass es sich dabei nicht um einen Überrumpelungsakt, sondern um Elternstolz und totale Unterstützung handelt."
Wenn sie nicht schauspielert, liest und reist die 23-Jährige. Und sie geht zu Fuß: "Nachdem weder Meditieren noch Sport als Ausgleich geholfen haben, habe ich dieses lange, ziellose Gehen für mich entdeckt. Das schaltet frei und entleert komplett." Und schenkt Zeit zum Nachdenken. Zum Beispiel, was man mit seiner Arbeit sein und geben will: "Ich bin definitiv ein politischer Mensch. Theater soll keine Dekoration sein, es ist schön, wenn man auf der Bühne brisant sein kann. Unterhaltung ist gut und notwendig, aber man muss manchmal das Messer sein, nicht nur die Feder."
Beseelt
Anders als viele ihrer Altersgenossen hat die Mimin keine Existenzsorgen: "Ich hab an der Burg wenig Grund zu klagen, ich kann auf alle Fälle gut leben. Ja, es war toll mit 22 Jahren finanziell unabhängig zu sein. Mir ist bewusst, dass ich aktuell in einer sehr privilegierten Situation bin." Am Burgtheater habe sie schnell jene Leute kennengelernt, die sie kennenlernen wollte – und erlebte dabei manche Überraschung: "Anfangs war ich sehr eingeschüchtert. Meine Kollegen sind aber ein Wahnsinnsgeschenk, die Bekanntschaften, die ich gemacht habe, haben mich beseelt – wider Erwarten."
Leben
Marie-Luise Stockinger wurde 1992 geboren und wuchs mit ihren Eltern und ihren drei Geschwistern in St. Florian auf. Nach der Matura begann sie ihr Schauspielstudium am Max Reinhardt-Seminar in Wien.
Rollen
Während ihrer Ausbildung spielte Stockinger in "Medea", die "Miranda" in Shakespeares "Der Sturm" und die Titelrolle in Wedekinds "Lulu". Außerdem gibt sie aktuell an der Burg die Ophelia in "Hamletmaschine", die Irina in "Drei Schwestern", Angelique in "Der Eingebildete Kranke" und das Frl. Wehner in "Das Konzert".