Wie der Friede nach Erlauf kam
Von Volontär Chronik
Wenn zu Weihnachten die Dämmerung der Dunkelheit weicht, gehen die Erlaufer zum Friedhof. Bevor sich alle zu Fest und Bescherung in ihren Häusern verkriechen, halten sie hier gemeinsam inne: Dieser Moment gehört den Toten. In Erlauf (Bezirk Melk) spielt die Trachtenkapelle jedes Jahr Weihnachtslieder für die Verstorbenen. Und der ganze Ort horcht mit.
Mitten unter den Musikanten steht ein Mann mit Posaune. Seine Geschichte ist untrennbar mit von jener der Musikkapelle verbunden: Seit 75 Jahren spielt Johann Pfaffeneder mit, davon war er 20 Jahre lang der Kapellmeister. Während des Zweiten Weltkriegs spielte der heute 87-Jährige immer wieder Totenmessen für gefallene Soldaten, in der Besatzungszeit waren es dann die Russen, für die er musizierte. Seite an Seite mit seinem Vater spielte er nach, was der Russe vorsang, ein Säbeltänzer tanzte dazu. „Mein Vater hatte eh so eine Angst vor den Russen, der hat geglaubt, jetzt ist’s aus“, erinnert sich der Erlaufer.
Kriegsende
Das Ende des Zweiten Weltkrieges erlebte Pfaffeneder als Molkerei-Lehrling. Noch heute sieht er vor seinem geistigen Auge die Panzer, die am 8. Mai 1945 in Erlauf einrollten. In der anschließenden Nacht wurde auf Erlaufer Boden Geschichte geschrieben: Hier in diesem kleinen Mostviertler Ort trafen Sowjets und Amerikaner aufeinander. Im heutigen Gemeindeamt stand der sowjetische Generalmajor Dmitri Dritschkin dem US-General Stanley Reinhart gegenüber. Um Mitternacht reichte man sich die Hände. In Europa war der Zweite Weltkrieg vorbei.
Heute nennt sich Erlauf eine „Friedensgemeinde“. Jährlich veranstaltet man die Friedenstage, seit 2015 gibt es das Museum „Erlauf Erinnert“. Das knapp 1100 Seelen zählende Dorf ist ein Hotspot der Aufarbeitung, Erinnerungskultur hat hier seit 1965 Tradition. Unter dem Motto „Whiskey, Wodka und Veltliner“ brachte man damals – mitten im Kalten Krieg – Amerikaner und Sowjets zu einer Friedensfeier zusammen.
„Das war mutig und hatte eine große symbolische Kraft“, sagt Michael Schrabauer heute. Der 52-Jährige kümmert sich als Gemeinderat um eine aktive Erinnerungskultur und stoßt dabei immer wieder an Grenzen: „Gemeinsam mit dem Museum Erlauf Erinnert versuchen wir, über eine Zeit zu reden, über die sehr wenige reden wollen“, sagt er. Mehr als 70 Jahre nach Kriegsende sei das Thema noch immer ein heikles, meint Schrabauer und weist dabei auch auf die traumatischen Erfahrungen der Zivilbevölkerung während der Besatzung hin.
Protest
Wie tief der Schmerz sitzt, zeigt das Beispiel des Denkmales von Oleg Komov, das seit 1995 mitten im Ort steht. Es zeigt ein Mädchen zwischen einem russischen und einem amerikanischen Soldaten. Ursprünglich hätte der russische Künstler anstelle des Mädchens eine Frau vorgesehen, doch die Erlauferinnen protestierten. Zu sehr wurden sie dadurch an die gewaltvollen Übergriffe der sowjetischen Besatzer erinnert.
Nur einen Steinwurf vom Denkmal entfernt wohnt Barbara Polensky. Mit ihren 105 Jahren ist sie Erlaufs Dorfälteste. Die Sowjets jagten ihr damals große Angst ein. Polenskys Kinder waren noch klein und ihr Mann seit vier Jahren an der Front. In Erlauf betrieb sie ein Kaufhaus: „Das war voller Sachen, aber dann war alles fort. Dann haben wir wieder klein angefangen“, erzählt sie. Vor dem Krieg hatte es im Ort noch andere Kaufhäuser gegeben, betrieben von jüdischen Familien. Die kannte Polensky freilich: „Das waren gute, anständige Leute“, erinnert sich Polensky. „Aber sie sind zu bald fort. Da war niemand mehr“.
Das Erinnern an diese Zeit ist für Polensky mit Schmerz verbunden. Gemeinderat Schrabauer sitzt ihr am Tisch gegenüber und hört aufmerksam zu. Solche Erinnerungen müsse man festhalten, sonst „lösen sie sich auf“, sagt er später mit ernster Miene.
Überfluss
Wenn Johann Pfaffeneder an Weihnachten in den 1940ern denkt, kommen ihm Zuckerl in den Sinn, die so klebrig sind, dass man sie vom Wickelpapier kaum losbekommt: Zuckerl, die seine Großmutter aus Sirup von gestohlenen Zuckerrüben gemacht hat. Früher am Hof war das Weihnachtsfest bescheiden – ganz im Gegenteil zu den Weihnachtswünschen von Schrabauers Kinder, wie der Gemeinderat einwirft. Er nennt den Begriff der Überflussgesellschaft.
Am 24. Dezember werden seine zwölfjährige Tochter und der 14-jährige Sohn trotzdem mit ihm auf dem Erlaufer Friedhof stehen. Und wie der Rest der Gemeinde werden die beiden aufhorchen, wenn Johann Pfaffeneder mit der Kapelle den ersten Ton für die Toten anstimmt. Dann ist Weihnachten in der Friedensgemeinde.