Chronik/Niederösterreich

"Kinder müssen dort in die Schule gehen, wo ihr Zuhause ist"

KURIER: Ein ehemaliger Pfleger spricht über üble Zustände im Internat der Waldschule Wiener Neustadt. Die Leitung widerspricht dem. Kann eine Heimsonderschule überhaupt nach zeitgemäßen Methoden geführt werden?

Franz Huainigg: Zentrale Schulheime für Kinder sind alles andere als zeitgemäß. Kinder müssen dort in die Schule gehen können, wo ihr Zuhause ist, nur das gewährleistet eine Integration in ihrem Umfeld. Es ist doch absurd, wenn Eltern angeben, dass sie täglich 250 Kilometer fahren müssen, um ihr behindertes Kind in die Waldschule zu bringen. Die Unterbringung in Internaten heißt zudem Abschied von den Eltern und damit das Gefühl von ihnen verlassen und weniger gewollt zu sein. Darum braucht es einen Paradigmenwechsel: Weg von Sonderschulen, hin zu Inklusion vor Ort.

Erziehungsexperte Volker Schönwiese spricht gar von menschenrechtswidrigen Zuständen in derartigen Einrichtungen…

Die Schilderungen des Pflegers sind schockierend: Freiheitsbeschränkungen durch Schienen und Plastikrohren an den Händen, medikamentöse Betäubung und BetreuerInnnen die lieber Kaffee trinken, als sich mit den Kindern zu beschäftigen...Das sind harte Vorwürfe, wenn nur ein Bruchteil davon stimmt, sind das schlimme Menschenrechtsverletzungen. Ich habe auch sofort mit der Volksanwaltschaft Kontakt aufgenommen und einen Kontrollbesuch gefordert. Die Umstände gehören auf den Tisch, dazu gehört auch eine Befragung der Kinder. Ich bin auch froh, dass die Niederösterreichische Schulaufsichtsbehörde die Situation im Internat und in der Schule prüft.

Bildungs- und Erziehungsexperten sprechen von Betreuung und Inklusion behinderter Kinder in den jeweiligen Gemeinden. Wie will man das umsetzen und wie kann man das finanzieren?

Die Doppelgleisigkeit, Sonderschule und Integration ist das teuerste Modell, aber nicht das Beste. Es braucht ein klares politisches Bekenntnis zur schulischen Inklusion und eine konsequente Verfolgung dieses Weges. In Südtirol funktioniert das, und auch im Tiroler Bezirk Reutte ist es möglich. Es ist eine Frage der Pädagogik, der Rahmenbedigungen und des gesellschaftlichen Auftrags. Die behinderten Kinder sollten nicht fernab von ihren Eltern unterrichtet werden, sondern vor Ort in ihrem Bezirk, in der Regelschule, mit den Nachbarskindern. Das ist eine Win-Win-Win Situation für die Kinder, für das Schulsystem und die Gesellschaft.

Gibt es genügend Personal für eine Betreuung in den Heimatorten?

Ja, wenn man zum Paradigmenwechsel: Inklusion statt Sondereinrichtung kommt. Die LehrerInnen an den Sonderschulen würden dann dringend in den Regelschulen gebraucht. Mit dieser Bündelung der Resourcen kann sichergestellt werden, dass jedes behinderte Kind auch in die nächstgelegene Regelschule gehen kann. Davon würden vor allem auch die nicht-behinderten Kinder und das gesamte Schulsystem profitieren. Geringe Schülerzahlen, offener Unterricht, zwei LehrerInnen, die durch individuelle Lehrpläne jedes Kind entsprechend seinen Fähigkeiten fordert und fördert. Das ist das Ziel.

Ein Kritikpunkt ist die häufige Verwendung von Psychopharmaka im Bereich Kinder und Jugendlicher (im Speziellen auch behinderter Kinder und Jugendlicher). Wird generell zu rasch und zu häufig zu Medikamenten gegriffen? Gibt es auch andere Möglichkeiten, um Medikamenten-Ge- oder Missbrauch einzudämmen?

Ich war vor 15 Jahren in Schweden, wo alle Heime geschlossen worden sind. Schwedische BetreuerInnen erzählten uns damals, dass die ehemaligen HeimbewohnerInnen jetzt in den kleinen Wohngemeinschaften bedeutend weniger Medikamente benötigen. Mit Medikamenten wird oft nur das Symptom bekämpft, nicht aber die Ursache.

Wenn man die Leserbriefe zu den Berichten ansieht, sind meist Eltern von behinderten Kindern, die in der Waldschule untergebracht waren oder sind, sehr erbost und sprechen von Diffamierung. Der Tenor: Es ist alles wunderbar, das Personal ist großartig, den Kindern gehe es bestens. Spricht man hingegen mit Experten, Behindertenorganisationen und manchen ehemaligen Internatbewohnern der Waldschule, wird das System der Schule generell in Frage gestellt und angeprangert. Ehemalige Schülerinnen berichten gar von Traumatisierung aufgrund der Hospitalisierung in dem Internat. Wie erklären Sie die unterschiedliche Wahrnehmung?

Zunächst darf man Missstände in einem Internat nicht generalisieren. Und es ist selbstverständlich, dass Eltern glauben, das Beste für ihre Kinder zu tun. Fehler einzugestehen, ist grundsätzlich nicht einfach. Dazu kommt sicherlich der Faktor, dass die LehrerInnen und BetreuerInnen des Internats den Eltern wohl auch das Bild einer beschützenden und heilen Welt vermitteln. Und auch die Behörden raten den Eltern zu diesen Schulen. Eltern, die für ihre Kinder konsequent den integrativen Weg gehen wollen, müssen hingegen enorm viele Widerstände überwinden. Dass man da auch müde werden kann, ist wohl nachvollziehbar.

Ich habe aber einige Freunde, die in die Waldschule gegangen sind. Sie sagen heute, dass diese Zeit für sie ganz schrecklich war. Dort und in anderen Schulinternaten ist in ihnen das Bild entstanden: Wir da drinnen, die Behinderten, und da draußen die Nicht-Behinderten. So entstehen Vorurteile und Barrieren in den Köpfen, die später schwer zu überwinden sind.

Sie sollten selbst in die Waldschule gehen?

Ich kam 1975 in die Schule. Damals wollte mich die Volkschule in Spittal an der Drau nicht nehmen, da ich anders bin und behinderte Kinder nicht in einer normalen Regelschule unterrichtet werden können. Die Schulbehörde sagte zu meinen Eltern: " Da gibt es in der Nähe von Wien eine Spezialschule, die Waldschule. Dort soll der Franz hin. Dort wird er gut unterrichtet werden." Meine Eltern wollten mich aber nicht weggeben und sie kämpften um eine Schulaufnahme. Zunächst vergeblich und ich musste ein Jahr zu Hause bleiben. Sie suchten einen Privatlehrer, aber kein Lehrer sah sich damals im Stande, ein behindertes Kind zu unterrichten. Ein Jahr später wurde ich doch in der Volksschule aufgenommen, weil sich eine engagierte Lehrerin zu diesem "Experiment" bereit erklärt hat. Die Integration funktionierte ohne Probleme. Dieser Weg war für mich lebensentscheidend. Und ich bin meinen Eltern dafür dankbar, dass sie sich für einen normalen Schulbesuch so eingesetzt haben, obwohl Inklusion und Integration damals noch Fremdworte waren.

Soll die Waldschule (und ähnliche Einrichtungen in Österreich) weiter bestehen, oder sollte das Modell langsam auslaufen, um andere Möglichkeiten finanzieren zu können?

Der Tiroler Bezirk Reutte zeigt seit fast 20 Jahren vor, dass es keine Sonderschule braucht und das jedes Kind integriert werden kann. Der damalige Sonderschuldirektor Norbert Syrow hat kein neues behindertes Kind mehr aufgenommen und so hat er seine Sonderschule langsam aufgelöst. Der Übergang braucht Etappenschritte, der 1. wichtige Schritt wäre, dass jedes behinderte Kind, das neu eingeschult wird, in die Regelschule kommt.

Die Wahlfreiheit der Eltern, die es gesetzlich ja schon gibt, muss eine tatsächliche Wahlfreiheit werden: derzeit gibt es in Sonderschulen Nachmittagsbetreuung und Therapieangebote, diese Angebote gibt es aber nicht wenn man sich für die Integration entscheidet. Im Land Tirol hat jetzt die neue Schulratspräsidentin beschlossen, dass die Einstufung und Beratung der Eltern bei der Schuleinschreibung nicht mehr in den Sonderschulen stattfinden sollen. Das ist auch ein Problem des derzeitigen Systems: die Sonderschulen haben ein großes Interesse ihre Schülerzahlen zu halten und raten daher ihre Schule zu besuchen.

In Sonderschulen sind überproportional viele Kindern mit Migrationshintergrund. Das gehört sofort abgestellt: Es braucht eine Sprachförderung statt einer Sonderpädagogischen Förderung. Wenn man Kinder auf Grund ihres Sprachdefizits in Sonderschulen einschult, verbaut man ihnen Zukunftsperspektiven. Denn mit einem Sonderschulabschluss hat man später weit verringerte Chancen am Arbeitsmarkt und damit auch weniger Möglichkeiten, der Armutsfalle zu entgehen.