BMW Notrufknopf
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© /Werk/BMW

Notruf

Die Nöte des EU-Notrufs E-Call

Während die "E-Call"-Angebote der Autohersteller ständig zunehmen, verzögert sich der EU-Notruf weiter.

von Maria Brandl

06/13/2014, 07:31 AM

Im Februar war’s so weit: Das EU-Parlament stimmte in Straßburg mit großer Mehrheit für die Verordnung, wonach ab Oktober 2015 jeder Neuwagen serienmäßig mit dem automatischen Notruf "E-Call" ausgestattet sein soll. Ohne Mehrkosten für die Autokäufer. Damit sollte dieses Prestigeprojekt, das als Idee 1986 entstand, endlich umgesetzt werden.

E-Call basiert auf der Notrufnummer 112 und übermittelt bei einem Unfall automatisch den Standort des Fahrzeugs sowie die Fahrtrichtung (wichtig auf der Autobahn), zudem Kraftstoffart, Zeit, Fahrzeugnummer und Info, ob der E-Call automatisch oder händisch erfolgte, so Fritz Eppel, ÖAMTC. Ist die Meldung in der Notrufzentrale angekommen, wird versucht, mit dem Fahrzeuglenker ein Telefongespräch aufzubauen, um Näheres zu erfahren. Jeder EU-Bürger soll in seiner Sprache mit den Mitarbeitern der Leitstelle kommunizieren können. Ist kein Gespräch möglich, wird automatisch die Rettungskette aktiviert. So soll wertvolle Zeit für die medizinische Erstversorgung vor allem in abgelegenen Gebieten gewonnen und europaweit die Zahl der Verkehrstoten um rund 2500 Menschen pro Jahr gesenkt werden.

Nächste Verzögerung

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Doch inzwischen hält nicht nur der Automobilherstellerverband ACEA den gewünschten Start im Oktober 2015 für "sehr ehrgeizig". Denn, so ACEA, es mache wenig Sinn, ein System in Autos einzubauen, für das es dann nicht die nötige Infrastruktur gibt.

Das sahen auch die Experten auf dem GSV-Forum zum Thema "E-Call" so. Bis 2015 werde es keine flächendeckende technische Infrastruktur in allen EU-Staaten geben. Diese muss laut Experten auch mindestens ein halbes Jahr vor dem Startschuss für E-Call vorhanden sein, damit das Zusammenspiel funktioniert. Realistischer als Oktober 2015 sei daher Ende 2017.

Für den Gratisnotruf "E-Call", nicht zu verwechseln mit den inzwischen zahlreichen privaten Notrufsystemen von Autoherstellern, muss in jedem EU-Staat ein entsprechendes Mobilfunknetz flächendeckend darauf vorbereitet werden, einen genormten Mindestdatensatz (wenige Bytes, Datensignal wird auf Sprachanruf aufmoduliert) entsprechend zu übertragen. Allerdings, so Helge Molin, E-Call-Experte des heimischen Verkehrsministeriums, auf der GSV-Tagung, seien Staaten nicht verpflichtet, in abgelegenen Gebieten, wo es keine Mobilfunknetzabdeckung gibt, ein Netz extra für E-Call zu errichten.

Riesige Herausforderung

Aber allein den Anspruch zu erfüllen, dass alle Autofahrer in der EU an 365 Tagen rund um die Uhr in ihrer Sprache mit einer Notrufzentrale kommunizieren können sollen, sei eine "riesige Herausforderung", so Martin Grzebellus von Navcert in Deutschland. Derzeit werden nicht nur in Deutschland Notrufe von verschiedenen Rettungsdiensten entgegengenommen, von der Feuerwehr bis zum Roten Kreuz und der Polizei. In Deutschland zähle man pro Jahr insgesamt rund 30 Mio. Notrufe, bei einem Prozent, also 300.000 Fällen, handle es sich um einen wirklichen Notfall. Auf Österreich umgelegt, wären dies rund 30.000.

Um "Notrufe" wegen eines leeren Tanks oder verlegten Autoschlüssels vorweg auszusortieren, werden eigene Software-Programme installiert.

Auf der GSV-Tagung tauchte aber auch die Frage auf, wie künftig die Notrufe gereiht werden, in welcher Rangordnung sie entgegengenommen werden. Gilt ein Notruf über E-Call mehr als ein Notruf bei der Feuerwehr? Was passiert bei einem Massenunfall auf der Autobahn, wenn das Handynetz wegen Überlastung zusammenbricht? Sowohl Grzebellus wie Molin versuchten zu beruhigen. Für E-Call gebe es einen eigenen Standard, die Datenmenge sei so gering, dass das Netz kaum belastet werde und die Notrufe via E-Call würden gleich behandelt wie andere 112-Notrufe.

Aber das ist nicht das einzige heikle Thema von E-Call. Auch die Frage des Datenschutzes sowie des Umstands, dass sich mit der E-Call-Pflicht für die Wirtschaft eine neue "riesige Goldgrube" (Ex-BMW-Entwicklungsvorstand Göschel in der Handelszeitung) öffnet, weil sie so an wertvolle Daten kommt, erhitzten nicht nur auf der GSV-Tagung die Gemüter.

Das Tor der großen Möglichkeiten

Helge Molin vom Verkehrsministerium betonte mehrfach auf der GSV-Tagung, dass sich E-Call rechnet. Laut Schätzungen verursacht jeder Verkehrstote einen volkswirtschaftlichen Schaden von 1 Mio. €. Wie hoch die Kosten für den Aufbau der Notrufzentralen, des E-Call-Systems sowie dessen Einbaus insgesamt sind, sagte Molin aber trotz etlicher Nachfragen nicht.

Daten als Geschäft

Keine Zweifel am wirtschaftlichen Nutzen des E-Call haben Datenkonzerne wie Google oder Versicherungen und Autokonzerne. Mit E-Call verfügt jedes neue Auto über einen GPS-Sensor und einen Telefonanschluss, damit über die Basis zur Vernetzung. Zwar betonen Befürworter von E-Call wie Molin, dass die EU die Gefahren inzwischen erkannt und reagiert hat, indem nur ganz wenige Infos über E-Call mitgeliefert (z. B. keine Tempoangabe), die Daten danach wieder gelöscht werden und das System per se nur bei einem Unfall "aufgeweckt" würde. Aber das beruhigt nach den Aufdeckungen von Snowden nicht alle. Umso weniger, als sich ein Milliardengeschäft auftut. "Die Vernetzung des Autos öffnet das Tor zu einer riesigen Goldgrube", zitiert etwa das Handelsblatt den Ex-BMW-Entwicklungschef, Burkhard Göschel. Die Beratungsfirma Booz Company schätzt, dass sich das Geschäft mit dem vernetzten Auto weltweit von 31 Mrd. € 2015 auf mehr als 113 Mrd. € bis 2020 fast vervierfachen wird.

Schon jetzt erfassen bis zu 80 Geräte Daten im Fahrzeug, die derzeit beim Autohersteller bleiben und vor allem für die Werkstatt genutzt werden. Aber auch Versicherungen, Autobanken, Leasingfirmen, Behörden etc. sind extrem daran interessiert. Schon jetzt gibt es Angebote je nach Fahrstil. Was heute freiwillig ist, könnte künftig zur Pflicht werden, warnen Kritiker. Viele fordern, dass Autofahrer nicht nur über die Datenfreigabe, sondern auch über E-Call per se bestimmen können sollen.

Es gebe durchaus Wege, die Daten generell zu anonymisieren, so Raimund Wagner von AMV Networks. Man müsse es nur wollen. Die Innviertler Firma entwickelt seit Jahren entsprechende Telematiksysteme.

Es wird sich weisen, was sich durchsetzt. Einig waren sich die Redner, dass E-Call sinnvoll ist. Aber es bedarf noch etlicher Nachbesserungen.

Der arglose Lenker

Während sich der voll automatisierte Notruf (E-Call) der EU wohl weiter verzögert, bauen immer mehr Autohersteller ihre Services rund um den Notruf 112 zügig aus. Immer mehr Zusatzdienste werden damit verknüpft. Von ihnen versprechen sich nicht nur Autohersteller ein Milliardengeschäft. Nicht nur Mercedes und Bosch betreiben eigene Notrufzentralen. "Wir bieten den E-Call-Service schon heute unabhängig von der lokalen behördlichen Infrastruktur", so Bosch. In rund 20 EU-Ländern, auch in Österreich. 30.000 Notrufe habe Bosch 2013 bearbeitet. Bei Audi ist ein Angebot für Österreich in Vorbereitung. BMW ist seit Jahren aktiv.

Zusätzliche Infos Anders als beim Pflicht-E-Call der EU wissen die Helfer beim privaten E-Call auch, ob das Auto etwa auf dem Dach liegt, die Straße nass ist und der Reifendruck zu niedrig war. Wie viel Daten die Betreiber über sie erhalten, merken Nutzer oft erst an für sie überraschenden negativen Folgen. Noch fehlt das Bewusstsein. BMW betont, dass der Kunde den Dienst jederzeit deaktivieren lassen kann. Beim Kaufvertrag werde er über die Datennutzung informiert.

Das Bewusstsein für Datenschutz bei Kunden zu bilden, ist nicht so leicht wie bei einer Feuersbrunst, meint Max Schrems, berühmt geworden als Datenschutzkämpfer gegen Facebook, bei seiner Buchpräsentation ("Kämpf um deine Daten") auf Ö1. Er warnt vor der Mentalität "Die wissen ohnehin schon alles, da kann man nichts machen" oder "Wer nichts zu verbergen hat, muss sich auch nicht fürchten."

Warum es sich für Autokäufer lohnt, rund um E-Call und Zusatzdienste der Autohersteller stärker auf Datenschutz zu achten, soll der folgende Überblick zeigen.

Chef fährt mit Der "gläserne" Mitarbeiter ist dank Auto als Datenlieferant nicht mehr aufs Büro begrenzt. Gewagte Überholmanöver, unökologisches Fahren, private Abstecher, nicht geschlossene Fenster sind bei modernen Autos auch Chefs bekannt. In den USA nützt die Logistikfirma UPS die Technik, um Schäden am Motor der Autos vorhersagen zu können, optimiert Fahrtrouten in Echtzeit. UPS spart so 50 Mio. km bzw. 12 Mio. l Sprit. Ebenso Geld spart UPS durch Linksabbiegeverbote an Kreuzungen. Die Auswertung der Daten hat vorher gezeigt, dass es da oft kracht, so Viktor Mayer-Schönberger in seinem Buch "Big Data".

Behörden als Beifahrer Das Fahrprofil des Lenkers interessiert auch Behörden. Nicht nur als Einnahmequelle bei Verstößen gegen Tempolimits, sondern auch gegen "Schwarzfahrer", etwa unversteuerte Taxifahrten.Versichern beruhigt Das gilt auch für Versicherungen. Sie träumen vom "gläsernen" Autofahrer. Schon heute bieten sie günstigere Tarife für defensive Fahrer. Als Risikofahrer eingestufte junge Männer und Senioren könnten noch schwerer an günstige Polizzen kommen. Extra heikel wird’s, wenn der Kunde rund um E-Call und Zusatzdienste auch medizinische Angaben (Herzprobleme, Diabetes) macht, um im Ernstfall besser versorgt werden zu können. Diese Daten interessieren auch Versicherungen und Pharmafirmen.

Raserschreck In Nordeuropa seit Langem geplant, ist die automatische Tempodrosselung mit E-Call und den damit vorhandenen Systemen (GPS, Telefonanschluss) endlich leicht umsetzbar. Vor Schulen könnten Autos künftig vollautomatisch, "ferngesteuert", auf 30 km/h gebremst werden.

Hacker Auch sie werden das große Potenzial der neuen Pkw-Ausstattung rund um E-Call zu nützen wissen.

Wollen dafür mehr Bewusstsein schaffen

Bernhard Wiesinger, ÖAMTC, fordert rund um die aktuelle mit E-Call verbundene Datenübertragung mehr Transparenz: "Kein Mensch weiß, was genau übermittelt wird, wie oft und was damit passiert. Der Kunde soll bei Abschluss dieses Services zumindest im Groben erfahren, um welche Kategorie von Daten es sich handelt." Zu kritisieren sei auch der Ansatz privater E-Call-Anbieter, durch den so erzielten Wissensvorsprung Kunden exklusiv an ihre Dienste binden zu wollen. Wiesinger: "Natürlich wollen Autohersteller Kunden in ihrer Wertschöpfungskette halten und sind deshalb scharf auf die Daten aus dem Fahrzeug. Aber diese Bindung muss freiwillig sein."

Zudem dürften gewisse Services nicht an die Freigabe von Daten gebunden werden. Heißt, dass der Kunde zu gewissen Dienstleistungen nur Zugriff hat, wenn er sich zur Freigabe bestimmter Daten bereit erklärt. Diese Daten, z. B. über die Wachsamkeit des Lenkers, könnten bei einer Reparatur oder einem Unfall gegen den Kunden verwendet werden. Noch sind sich die wenigsten Lenker der Folgen unkontrollierter Datenweitergabe bewusst. Erst beim Unfall fällt dann so mancher aus allen Wolken, so Thomas Kranig, Bayerns Datenschutzpapst, auf dem AVL-Symposium im Herbst.

Müsste da nicht ein Autofahrerclub wie der ÖAMTC aufklären? Wiesinger: "Sie haben recht, wir müssen lauter werden." Bisher habe man sich auf EU-Ebene für mehr Konsumentenschutz eingesetzt, sei damit aber gescheitert. "Daher werden wir nun versuchen, zumindest auf nationaler Ebene Datenschutz sicherzustellen. Wenn jemand freiwillig die Daten hergibt, ist das seine Sache. Aber grundsätzlich muss jeder Fahrzeughalter Herr seiner Daten bleiben. Sobald ein Rückschluss auf die Person möglich ist, ist eine Einwilligung für Weitergabe und Weiterverwendung notwendig. Dass das nicht immer so gelebt wird, stimmt. Aber wir wollen dafür mehr Bewusstsein schaffen."

Zehn Minuten

Die Idee gibt’s seit 1986. Seit ca. 20 Jahren wird regelmäßig der Start verkündigt und wenig später wieder verschoben. Nun soll der EU-weite automatische Notruf "112" im Straßenverkehr ab Oktober 2015 in neuen Pkw Pflicht werden. Gratis für die Nutzer. Einfach zu handhaben, in allen EU-Sprachen. 2500 Leben sollen so jährlich gerettet werden. 2012 starben EU-weit 12.345 Autopassagiere.

Doch je länger die Umsetzung des "öffentlichen" E-Calls dauert, desto größer werden die Unsicherheiten. Nicht nur rund um die technische Umsetzung, sondern auch was die Hierarchie der Bearbeitung der Notrufe betrifft in Ländern wie Österreich, wo es traditionell eine sehr gute Notrufinfrastruktur (Polizei, Feuerwehr, Rettung etc.) gibt. Zudem offerieren seit Jahren mehrere Autohersteller "erweiterte" Notrufdienste, die ebenfalls mit "112" arbeiten, sehr teuer sind, aber auch viel mehr Service anbieten als der öffentliche "E-Call". Fährt bei einem Massenunfall die Rettung als Erstes zum Auto mit dem teuer bezahlten erweiterten Notruf oder zum "öffentlichen" Gratis-E-Call? Dazu kommt die Sorge um den Datenschutz. Mit dem "E-Call" verfügen alle Pkw über GPS-Sender und Telefonanschluss – Basis für lukrative Zusatzdienste.

Es stellt sich die Frage, wer am meisten von dieser an sich sinnvollen Einrichtung profitiert. Umso mehr, als Feldtests gezeigt haben, dass der Netto-Zeitgewinn dank E-Call zehn Minuten beträgt. Die können wertvolle Leben retten – sofern auch die nächsten Glieder der Rettungskette entsprechend funktionieren.

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